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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene
Autoren: dtv
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besucht?« Die Worte trafen mich wie ein Peitschenhieb, ich konnte und wollte nicht darauf antworten, weil jede Erklärung wie eine lahme Ausrede geklungen hätte. Jetzt, wo alles anders war.
    Da sagte Frau Buchholtz unvermittelt: »Wo sie doch so krank war, der Krebs   …«
    Mein Atem zitterte und das Gefühl, in einem Albtraum zu stecken, wurde übermächtig. Ich wollte aufstehen, davonlaufen, ich wollte aufwachen und alles sollte sich in Wohlgefallen aufgelöst haben: die Angst und der Schmerz, die Ohnmacht. Und die Erkenntnis, versagt zu haben. So endgültig, dass es nie mehr gut werden würde.
     
    Das Gespräch endete zu später Stunde und damit, dass ich zu viel geraucht und noch mehr getrunken hatte. Ich erinnere mich, dass ich beim Aufstehen fast das Gleichgewicht verloren hätte und all meine Konzentration bündeln musste, um den Weg aus der Wohnung und ins Hotel zu finden. Ich tat dies mit ruhiger Anstrengung und bewusst würdevollem Gang und bildete mir wie alle Betrunkenen ein, dass ich mich gut im Griff hatte und niemand etwas bemerken konnte. Einzig das etwas verrutschte Lächeln des Nachtportiers im
Hotel Kugel
zeigte mir, dass mein Zustand doch nicht unbemerkt blieb. Mit dem Zimmerschlüssel in der Hand fragte ich ihn, bevor ich nach oben verschwand: »Sagen Sie, mein Bester, wie oft besuchen Sie eigentlich Ihre Mutter?«
    Er antwortete nicht sofort, vielleicht fand er die Frage indiskret, vielleicht hatte er keine Mutter mehr, nie eine gehabt. Doch dann hörte ich ihn mit weichem Wiener Singsang sagen: »Ich brauch Sie nicht zu besuchen, Sie wohnt bei mir.«
    Das gab mir den Rest und ich stolperte wortlos davon, bekam einen Stock höher die Zimmertür nicht gleich auf, und als es mir doch noch gelang, riss ich die Fenster auf, schmiss mich im Dunkeln aufs Bett und blieb so bis zum Morgen liegen,unbeweglich, bis das erste Morgenlicht die Schwärze der Nacht vertrieb.
     
    Es war die Kälte, die mich weckte. Ich erhob mich mühsam, mit steifen Gliedern und Schluckbeschwerden, schloss die Fenster und drehte beide Heizkörper nach rechts bis zum Anschlag. Zitternd schleppte ich mich unter die Dusche und blieb dort zehn Minuten unter einem Strahl stehen, der so heiß war, dass ich es kaum aushielt. Dann schöpfte ich mit beiden Händen reichlich kaltes Wasser und klatschte es auf meine Augen, um die Verwüstungen des Alkohols abzumildern, was natürlich vergebens war.
    In der frischen Unterwäsche, der einzigen, die ich mitgebracht hatte, saß ich dann eine Weile auf dem Bett herum. Ich würde mir ein paar Sachen kaufen müssen. Auch etwas Schwarzes. Wegen der Halsschmerzen hatte ich noch nicht einmal Lust auf eine Zigarette, also ging ich gleich in den Frühstücksraum hinunter, der aussah wie eine abgehalfterte Vorort-Stammtischkneipe, aus der man die Flipperautomaten entfernt hatte. Der Raum war gut besucht und ich verzog mich in die hinterste Ecke. Mit dem Rücken zu den anderen Gästen dachte ich daran, dass meine Mutter ein paar Häuser weiter mit zerschmetterten Knochen auf dem Boden gelegen hatte. Eine Frau mit Kleinmädchenstimme, etwa in meinem Alter, kam an den Tisch. Ich bestellte Kaffee und Früchtetee und hatte Mühe, die Tränen wegzublinzeln.
    Bis vor wenigen Stunden hätte ich den Gedanken, meine Mutter könnte sich etwas antun, weit von mir gewiesen. Worte wie Verzweiflung oder Todessehnsucht brachte ich mit ihr nicht in Verbindung. Ich habe nie liebevoll an sie gedacht, aber ich war mir sicher gewesen, dass sie immer irgendwie da wäre. Ich hatte fest damit gerechnet, dass sie genug Disziplin aufbringen würde, um mich, die labile Tochter, um mindestens zwanzig Jahre zu überleben. Als ihr letzter Triumph über mich.
    Aber so war es nicht gewesen. Mutter war alt und krank gewesen, todkrank, und wahrscheinlich war sie auch einsam gewesen. Sie hatte Kämpfe mit sich ausgefochten und einen letzten, endgültigen Kampf verloren. Gegen den Tod kam man nicht an. Noch nicht einmal sie. Aber dem Tod gewissermaßen in die Arme zu springen, das war so gar nicht ihre Art gewesen, früher. War Selbstmord nicht eine Form der Kapitulation? Die Segel streichen, die weiße Fahne hissen, das Schiff kampflos dem Feind überlassen? War das die Mutter, die ich gekannt, unter der ich ein halbes Leben lang gelitten hatte? Auf jeden Fall hatte die Mutter, die ich gekannt hatte, jede Schwierigkeit als Herausforderung betrachtet, die es zu bestehen galt. Zu überlisten, niederzuringen, zu beseitigen. Wie sehr
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