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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene
Autoren: dtv
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und habe das Fenster geöffnet. Nun stehe ich da und schau hinaus in den Regen. Vorher habe ich nur einzelne Tropfen gehört, die wie winzige Finger an die Scheibe geklopft haben, auf den Fenstersims, ein tickendes, zärtliches Geräusch. Mit dem Öffnen des Fensters ist der Regen präsenter geworden, drängt sich in das Zimmer und in mein Bewusstsein. Ich höre sein gleichmäßiges Rauschen und spüre, wie die kühle Luft, die er mitbringt, den Raum erfüllt. Ich schließe die Augen und höre ihn, sein Rauschen aus der Unendlichkeit, wie er schon vor tausend Jahren rauschte. Und jetzt weiß ich auch, wo ich beginnen werde. Denn der Regen trägt mich zurück. Zurück zu jenem Tag, an dem ich Paul das erste Mal sah.

 
    Heute Morgen ist es   … passiert. Sie ist von ihrer Dachterrasse gefallen. Oder gesprungen. Das weiß man nicht genau.« Ihre Worte klangen wie fremdartige Laute, denen man nachträglich einen Sinn zuzuordnen versucht. Ich sah die Frau auf mich zukommen, sie sprach weiter, bewegte die Lippen, ohne Ton, und fasste mich am Arm und führte mich zu einem Sofa, in das sie mich hineindrückte, ich weiß noch, dass es ein Kirschholzsofa mit einem Biedermeierstoff war, offensichtlich frisch aufgepolstert, denn die Sprungfedern waren hart und der Stoff jungfräulich, wie unberührt. Und dann dachte ich, dass jetzt alles anders war, alles. Dass es ab jetzt nie mehr so sein würde wie bisher. Dass ich etwas versäumt hatte, etwas Entscheidendes, das in seiner furchtbaren Endgültigkeit für immer mein Begleiter sein würde: Ich war zu spät gekommen.
    Die Frau verschwand und kehrte wenig später mit einem Tablett und einer Karaffe mit einer braunroten Flüssigkeit zurück. Glas klirrte an Glas und sie hielt mir etwas an die Lippen, das nur Cognac sein konnte. Ich reagierte nicht, sie sagte: »Trinken S’, Sie sind ja weiß wie ein Leintuch.«
    Und dann trank ich und wieder hörte ich die Frau sprechen, in Satzfetzen, die kamen und gingen, mit Wörtern, die wie Treibgut im Raum herumirrten. »…   so furchtbar   … nicht glauben   … auch nicht der Typ   … hin und wieder ein Glaserl miteinander… sooo viel Interessantes   … Arbeit   …« Der Alkohol breitete sich in meinem Körper aus, in meinen Gliedern, meine Kehle brannte und in meinem Nacken spürte ich ein weiches Kribbeln, das mich nachgiebig machte und irgendwie eine Distanz zu mir selbst erzeugte.
    »Bitte erzählen Sie noch einmal. Von Anfang an. Alles«, sagte ich zu der Frau, deren Namen ich, wie mir jetzt auffiel, immer noch nicht kannte. Ich hielt ihr mein leeres Glas hin, und als sie die Karaffe zum Nachschenken anhob, fragte ich: »Wie heißen Sie?«
    »Erna Buchholtz«, antwortete sie und strich sich über das kurze graue Haar, das wie ein Helm um ihren Schädel lag, »Mit tz.«
    Die Frau, die Erna Buchholtz hieß, verschwand und kam mit einem zweiten Glas zurück, schenkte es voll und leerte es in einem Zug. Dann setzte sie es leise ab, ganz vorsichtig, als wollte sie die Geister, die den Raum bevölkerten, nicht verscheuchen. Ich betrachtete sie, es war alles so unwirklich, und wartete darauf, dass sie wieder zu sprechen begann:
    »Heute Morgen. Es war noch ganz früh. Sieben oder so. Da hat’s plötzlich bei mir geläutet und da stand die Polizei und fragte nach Ihrer Mutter.« Ob Frau Sternberg allein lebe und ob sie, Erna Buchholtz, von Angehörigen wisse. Bei dem Wort »Angehörige« sei ihr ganz seltsam zumute geworden und sie habe gleich gewusst, dass etwas passiert sein musste. Und dann sagten die Beamten, dass es einen »Vorfall« – ja, dieses Wort hätten sie verwendet – dass es also einen Vorfall gegeben habe. »Dass sie – o Gott, ich darf mir das gar nicht vorstellen – irgendwann in der Nacht von ihrer Terrasse hinuntergesprungen ist. Ich wollte   … konnte das nicht glauben, denn das hätte ja bedeutet, dass ich in aller Seelenruh geschlafen habe, während sie   …«
    Noch bevor ich näher darüber nachdenken konnte, sagte ich: »Meine Mutter hätte sich niemals umgebracht.«
    Erna Buchholtz sah an mir vorbei, ich konnte nicht recht einschätzen, was sie dachte, aber aus ihrem Blick sprachen Mitgefühl und etwas, das mich vermuten ließ, sie wüsste Dinge, die mir verborgen waren.
    Erna Buchholtz setzte sich auf ihrem Stuhl zurecht; das Knarzen des Geflechts klang überlaut in der Stille. Dann sagtesie, und ihr Blick war auf einen Punkt hinter mir an der Wand gerichtet: »Warum haben Sie sie nie
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