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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene
Autoren: dtv
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übermächtig. Also bezahlte ich für eine Nacht und nahm den Zimmerschlüssel für die 101 entgegen. Zwischen Fahrstuhl und Rezeption stand ein altmodischer Schuhputzapparat, mit Bürsten in Schwarz und Braun und einer Trittfläche aus schwarzem Profilgummi. Ich trat darauf und sah zu, wie die Bürsten losratterten und meine wasserfleckigen Stiefel polierten. Ich stieg die roten Teppichstufen hinauf, die beiden Taschen über der rechten Schulter. Ich hatte für die eine Nacht nicht viel mitgenommen. Morgen säße ich schon wieder im Flieger Richtung Deutschland und das Gespräch mit meiner Mutter wäre Vergangenheit.
    Die zurückliegende Woche hatte ich damit zugebracht, mir unser Wiedersehen in den verschiedensten Farben auszumalen. Da gab es die tränenreiche und pathetische Reunited-Version, bei der sie mich für ihre Versäumnisse um Verzeihung bat und mir reumütig versicherte, sie habe Unrecht gehabt und endlich eingesehen, dass jeder Mensch »seinen eigenen Weg« gehen müsste. Eine andere Version, die wie ein Super- 8-Film vor mir ablief, war die Enterbungsszene: Mutter, die wie ein Scherenschnitt vor mir stand und mir eröffnete, dass ich von ihr keinen Cent erhielte und dass Omas und Mutters Vermögen karitativen Zwecken zur Verfügung gestellt werden würde. Und dann gab es noch die »Mir bleibt nur wenig Zeit«-Version, in der sie mir gefasst, aber mit tränenfeuchten Augen von einer unheilbaren Krankheit berichten würde. Und noch eine letzte Möglichkeit war mir eingefallen – »die Chronik einer angekündigten Hochzeit«: Mutter, die (nach dem Pech mit meinem Vater – auch etwas, was sie mich hatte spüren lassen) verkündete: »Ich habe einen Menschen gefunden, mit dem ich alt werden möchte. Ich werde heiraten.« Ich würde eine etwas ältliche, aber elegante Brautjungfer abgeben und in einem schlichten eierschalenfarbenen Kostüm Blumen werfen.
     
    Als ich in meinem feuchten Mantel in dem überhitzten Gang vor der Nummer 101 stand, fühlte ich mich wie eine Dampfkartoffel.Grimmig stellte ich fest, dass die Zimmertür genau gegenüber vom Fahrstuhl lag.
    Immerhin war es im Zimmer nicht ganz so heiß wie auf dem Korridor. Ich stellte meine Tasche auf die Gepäckablage, zog Mantel und Stiefel aus und öffnete das Fenster. Das Zischen von Autoreifen auf Asphalt und das Summen einer anfahrenden Tram drangen herein. Ich kramte in meiner Tasche und stellte mich rauchend ans Fenster. Einen Moment lang schloss ich die Augen, inhalierte tief und fühlte, wie ich mich entspannte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hingen vor einem Geschäft indische Seidenschals in allen erdenklichen Farben; daneben war eine Bäckerei, deren Lichter hell und freundlich in die hereinbrechende Dämmerung schimmerten. An der Tramhaltestelle war jetzt nur noch ein Mann mit einem altmodischen Hut, wie ihn Männer in amerikanischen Filmen aus den Vierzigern und Fünfzigern trugen. Er hatte keinen Schirm und stand einfach so da, im Regen. Sein Gesicht lag im Schatten des Hutes, doch aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass er zu mir heraufblickte und mich ansah.
     
    Eine Stunde später trat ich, den Schirm des Portiers in der Hand, erneut auf die Straße. Inzwischen war es dunkel geworden, die Bäckerei und der indische Laden hatten geschlossen. Wieder wartete ich vergeblich, trat von einem Bein auf das andere und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich hatte Hunger, denn seit dem trockenen Sandwich im Flieger waren Stunden vergangen. Ich überlegte, ins
Siebensternbräu
zu gehen, etwas zu essen und von dort aus immer mal wieder anzurufen. Die Gastwirtschaft lag nur ein paar Häuser von der Wohnung meiner Mutter entfernt. Ich könnte auch im
Café Kairo
warten, das direkt gegenüber lag und von dem aus man die Haustür im Blick hatte. Ich wandte mich ab, als eine Frau, etwa im Alter meiner Mutter, an mir vorbeiging, zwei Einkaufstüten von
Billa
abstellte und den Schlüssel ins Türschloss steckte. Ich zögerte einen kurzen Moment, dann sagte ich seltsamstockend: »Verzeihen Sie, ich   … wollte zu Frau Sternberg. Aber sie ist nicht da.«
    Die Frau, die gerade dabei war, die Tür aufzustemmen, ließ diese wieder zufallen. Sie war klein und mit einem Gesicht voller Misstrauen gesegnet, und als ich nichts weiter sagte, baute sie sich vor mir auf, so gut das eben ging bei einer Körpergröße von 1,50   Meter, und fuhr mich an: »Habt’s ihr denn nichts Bessres zu tun, als euch am Unglück andrer zu
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