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Blutspiele

Blutspiele

Titel: Blutspiele
Autoren: Iris Johansen
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    D ie Frau hatte sich gelohnt.
    Sie hatte ihm viel gegeben, und nun musste er ihr etwas zurückgeben.
    Kevin Jelak drapierte den nackten Körper sorgfältig auf der Wiese. Er bürstete ihr das lange blonde Haar aus dem Gesicht und schloss die blauen Augen, die geradewegs in den Himmel starrten. Aber gegen das eingefrorene Entsetzen, das ihr Gesicht verzerrte, konnte er nichts tun. Nun, das war nicht anders zu erwarten gewesen. Mit neunzehn Jahren kannte Nancy Jo Norris die Alpträume noch nicht, denen Frauen ausgesetzt sein konnten. Alpträume, vor denen er sie gerettet hatte. Eigentlich mochte er ältere, erfahrenere Frauen lieber, aber als ihn das Fieber ergriff, musste er nehmen, was er kriegen konnte.
    Das Fieber. Dir war nicht klar, was für ein Glück du hattest, Nancy Jo. Vielleicht wäre ich an dir vorbeigefahren, wenn die Not nicht so groß gewesen wäre. Und wenn ich mich nicht auf eine so kleine Ecke der Welt beschränken müsste.
    Jene Ecke, in der sich Eve Duncan befindet. Die wunderbare, starke, gequälte Eve Duncan. Eve kannte die Alpträume. Sie hatte sie durchgestanden. Auch wenn sie so tat, als liebte sie das Leben, in der Tiefe ihres Herzens wünschte sie sich die Erlösung, die er ihr geben konnte. Die er ihr geben musste. Sie würde sein letzter Zug in diesem Spiel sein, das hatte er immer schon gewusst. Doch nachdem sie seine wichtigste Quelle zerstört hatte, war es seine Pflicht, ihr sofort ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen.
    Er blickte nach oben auf den zunehmenden Mond, der scharf wie eine Sichel am Nachthimmel stand. »Eve, hörst du mich?«, flüsterte er. »Spürst du mich?« Dann schloss er die Augen und versuchte, in seinem Inneren ein Bild von Eve heraufzubeschwören. Kurze rotbraune Haare, schlanker kraftvoller Körper, intelligentes ausdrucksstarkes Gesicht. »Du wirst keine leichte Aufgabe sein. Aber ich verspreche dir, ich werde durchhalten.«
    Aber erst musste er dieser unbedeutenderen Frau, dieser Nancy Jo Norris, noch die letzte Ehre erweisen.
    Er nahm den goldenen Kelch, den er ihr zwischen die gefalteten Hände auf die Brust gestellt hatte. »Du bist erlöst, Nancy Jo. Flieg davon.« Er bückte sich und küsste sie zögernd auf die Lippen. Sie wurde bereits kalt, als ihre Seele entwich. »Hast du mir schon vergeben? Hast du erkannt, welches Geschenk ich dir gemacht habe?«
    Jedes Mal stellte er diese Fragen, aber stets vergeblich. Er musste Geduld haben. Eines Tages würde ihm eine von ihnen diese Bestätigung geben.
    Vielleicht Eve Duncan …
    Noch eine letzte Pflicht, die stets das reine Vergnügen war.
    »Nancy Jo Norris.« Er hob den Kelch an die Lippen und sah noch einmal in den Nachthimmel und auf den kalten, scharfen Splitter des Mondes. »Geschenk zu Geschenk.«
    Er leerte den Becher.
     
    Der zunehmende Mond war hell und kalt, eisig glitzerte sein Licht auf den schlafenden Feldern entlang der Autobahn zum Flughafen von Atlanta.
    Kalt? Warum fiel ihr plötzlich dieses Wort ein? Eve war unterwegs, um ihre Adoptivtochter Jane abzuholen, die aus Paris ankam, und bis vor wenigen Minuten war sie von Wärme und aufgeregter Vorfreude erfüllt gewesen.
    Wie albern. Liebe und Aufregung empfand sie noch immer. Sie fröstelte nur, weil es mitten in der Nacht war. Vielleicht war das auch eine Nachwirkung der letzten Tage, die Joe und sie in den Sümpfen verbracht hatten, um das Monster Henry Kistle aufzuspüren. Es war ein einziger Alptraum gewesen. Um Eve auf seine Spur zu locken, hatte der Serienkiller ein kleines Mädchen als Geisel genommen und ihr vorgelogen, er sei derjenige, der vor vielen Jahren ihre kleine Tochter getötet hätte. So war ihr nichts anderes übriggeblieben, als sich auf die Jagd nach ihm zu machen. Und als sie die Insel entdeckten, auf der Dutzende ermordeter Kinder begraben waren, hatte der Alptraum riesige Ausmaße angenommen. Ja, das reichte, dass einem bis auf die Knochen eiskalt werden konnte.
    Gleichzeitig bemerkte sie, dass Joe Quinn sich immer weiter von ihr entfernte, je länger sie nach dem Leichnam ihrer ermordeten Tochter Bonnie suchte. So lange waren sie schon zusammen, und nun gerieten ihre Liebe und ihr gemeinsames Leben in Gefahr, weil Eve nicht damit aufhören konnte, sich um die Heimholung ihrer Bonnie zu bemühen. Ihr Kind war vor vielen Jahren entführt und vermutlich ermordet worden. Nachdem sich herausstellte, dass Ralph Fraser, der zahlreiche Morde gestanden hatte und dafür hingerichtet worden war, gar nicht Bonnies Mörder war,
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