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Henningstadt

Henningstadt

Titel: Henningstadt
Autoren: Marcus Brühl
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erzähle dir die Geschichte eines jungen Mannes, der feststellen muss, dass alles ganz anders ist als zu der Zeit, als es noch keinen Sex gab. Ich erzähle einen sieb zehn jährigen, glatten, kraftvollen Körper, angespannt, um allem ins Gesicht zu springen, das sich ihm entgegenstellt. Aber nichts Festes stellt sich gegen ihn, der Körper ver harrt in der Anspannung vor dem Sprung. Die Welt ist eine klebrige, zähe Masse.
    Man kann sie nicht bespringen, sie gibt keinen Wider stand. Das ist die Crux: Die berühmte See von Plagen ist unan greifbar — zwischen den Fingern zerrinnt sie dir. Womöglich auch noch glitzernd.
    Ich schicke dir deine Geschichte Stück für Stück. Du warst nur kurz hier bei mir in Berlin. In meinem kleinen Turmzimmer, dem Tete-Palast, wenn man von einer Woh nung im ersten Stock überhaupt als Turmzimmer sprechen kann. Mit Steffen, dem dummen Jungen.
    Natürlich muss ich oft den Kaffeesatz befragen, wenn ich nicht weiter weiß – und nicht schwindeln will. Da ich aber viel Kaffee trinke, ist das kein Problem.
    Weißt du, Henning, manchmal habe ich das Gefühl, der Kaffeesatz ist so viel wahrhaftiger als wir alle, weil er so dunkel ist. Aber lassen wir das – glaub einer alten Tunte, mein Lieber!
    Ich schreibe dir deine Geschichte auf, weil jedes Wort, das ich über dich schreibe, mir sagt, wie alles war, wie alles bei mir war. Ich habe keine Geschichte. Ich habe alles vergessen. — Wahrscheinlich ist Lidschatten schlecht fürs Gedächtnis.
    Bevor wir wieder in die wirkliche Welt eintauchen, muss ich dir wie versprochen noch verraten, wie alt ich wirk lich bin. Damals an der Spree sagte ich neunund zwan zig. In echt bin ich aber höchstens neunundzwanzig.
     
     
     
    3
     
    Schritte murmeln im Hausflur, die Treppe hoch bis in den vierten Stock. «Kannst du mir mal den Schlüssel geben?», fragt Isabell.
    «Wieso denn?», fragt Henning zurück. Sprechen und atmen sind zu viel auf einmal. Henning muss sich an die Wand lehnen und fixiert Isabell. Sie ist groß und schlank. Sie ist Hennings Freundin, seine beste Freundin seit im mer. Immer heißt, seit ungefähr sechs Jahren. Isabell hat hellbraune Haare und ist schön, wie Frauen in dem Alter schön sind. Frauen in Isabells Alter sind siebzehn.
    Henning sieht Isabell an und freut sich über sie. Isabell steht da mit leicht gespreizten Beinen und aufmerksamen Augen und wartet offensichtlich auf irgend etwas. «Den Schlüssel!»
    Hennings Hand wühlt in der Jackentasche und fischt den Schlüssel raus. Henning sieht seiner Hand zu, die Isabell den Schlüssel gibt.
    Isabell nimmt ihn und macht eine rasend schnelle Be wegung. Sie stößt sich von der Wand ab und fliegt zu Hen nings Wohnungstür.
    Isabell dreht kurz den Kopf und grinst in Hennings Richtung. Henning greift sich unwillkürlich in den Schritt und bestreitet lallend, dass er betrunken ist. Isabell sagt: «Gut, komm rein!» Henning macht Isabells Bewegung nach. Er stößt sich von der Wand ab, taumelt und wacht in seinem Bett auf.
    Er sieht die beige Decke über sich. Der Raum ist halbdun kel, nur die Schreibtischlampe brennt. Er hört Isa bells Stimme. Isabell fragt, wie es ihm geht. Schlecht, denkt Henning und sagt nichts. «Henning!» Das war lau ter als eben, denkt Henning. «Gut», murmelt er. Die Decke dreht sich halb um sich selbst. «Schlecht. Mir geht ’ s schlecht», wimmert Henning. Er wälzt sich auf die Seite, sieht kurz in Isabells erschrockenes Gesicht, holt noch ein mal Luft und übergibt sich über den Bettrand. Krämpfe zucken durch seinen Oberkörper. Er hat Angst zu er sticken. Drei Mal laufen die Würgekrämpfe durch seinen Körper und schütteln ihn durch, dann entspannen die Muskeln und er keucht, seine Haare fallen bis kurz über das Erbrochene. Henning macht schnell die Augen zu. Es stinkt. Über dem Gestank liegt eine leise, köstliche Note Orangenduft.
    «Na, Gott sei Dank!», nuschelt Isabell und geht weg.
    Geh nicht weg!, denkt Henning, und eine Träne fällt in die Kotze. Er merkt, dass sein Denkapparat ziemlich lang sam läuft. Es freut ihn. Wozu betrinkt man sich sonst?, denkt er und irgendwie macht ihn dieser Gedanke zufrie den. Er findet ihn entschlossen und klar, geradezu nobel in seiner Klarheit. Es kommt ihm so vor, als sei diese Klarheit ein Zeichen geistigen Edelmuts. Der Alkohol, der noch eben sein Koordinationsvermögen so sehr beein träch tigt hat, dass er stürzte, verleiht ihm nun die Flügel, mit denen er sich zur Welterkenntnis
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