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Henningstadt

Henningstadt

Titel: Henningstadt
Autoren: Marcus Brühl
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zusuchen. «Die Seventies sind immer in!», hat Isa dekretiert. Zum Schluss ist dann die Brille in der Handtasche verschwunden, weil Rosi gegen einen Türpfosten geknallt ist.
    Henning springt auf und umarmt seine Mutter. Kurz. «Setzt euch doch zu uns!», sagt Steffen. Sie begrüßen sich mit einem Kuss. Henning stellt Christian vor.
    Von halb rechts vorne setzt sich der Schlachtruf Flyer raus! durch. Henning schreit mit. Es macht ihm großen Spaß, auf der Straße zu sein und rumzubrüllen. Die andern machen auch mit. Christian und Rosi brauchen am längsten, bis sie einfallen. Nach zehn Minuten oder einer Viertelstunde Rumbrüllen ebbt der Ruf ab. War aber trotzdem beeindruckend, versichern sich die Anwesen den.
    Die Zeit vergeht. Inzwischen hat sich die Menschen menge fast verdoppelt. Die Leute geben sich Mühe, keine schlechte Laune zu kriegen. Ein paar fangen an, Hejo, spann den Wagen an! zu singen. Ein paar fallen ein. Die Sonne gibt sich Mühe, und nach einer Weile ist die Durst strecke überwunden und die Stimmung wieder gut. Ein weiser alter Mann hat ein paar Kisten Wasser und Bier für alle angefahren. Zwei Stunden sind vergangen, dann tritt — schade, dass die Bibliothek keinen Balkon hat — der Stadt direktor selbst vor die Tür.
    Ein Raunen geht durch die Menge. Immerhin gibt es ein paar Stufen, auf deren oberster der Bürgermeister stehen bleibt. Fast hätte der gute Mann den rechten Arm gestreckt gehoben, um Aufmerksamkeit zu erregen und um Ruhe zu bitten. Fällt ihm aber noch rechtzeitig ein, dass das nicht geht. Hätte dann den nächsten Skandal ge ge ben. Nur ruhig Blut!, denkt er sich. Er ist nervös. Im Umgang mit homosexuellen Demonstranten ist er nicht gerade geübt. Es sind auch eine Menge Frauen darunter, stellt er erleichtert fest.
    Er steht in der Tür der Bibliothek, und niemand weiß, woher er gekommen ist. Er muss den Hintereingang be nutzt oder zwei Stunden lang drinnen gewartet haben. Wahr scheinlich hat er erst mal angerufen, ob randaliert wird. Die Demo ist angemeldet, gewusst hat er auf jeden Fall von ihr.
    «Sie wissen, meine Damen und Herren», hebt er mit sei ner für die bürgerliche Öffentlichkeit bestimmten Stim me tönend zu sprechen an, «dass ich das Faltblatt der Schwulen Initiative Henningstadt wegen einer Eingabe von Seiten der Frau Seite zur Prüfung eingezogen habe, einziehen musste.»
    Leise Buh-Rufe kommentieren diese Ausführung.
    «Ich habe die Flugblätter inzwischen gelesen —»
    «Wahrscheinlich jedes einzelne», zischt Christian.
    « — und ich habe sie für nicht unsittlich oder jugend ge fährdend befunden. Das Flugblatt der SIH liegt also ab so fort wieder in der Bibliothek aus!»
    Jubel umtost den glücklichen Stadtdirektor. Ein Sturm der Begeisterung. Henning fällt Isa in die Arme, dann Stef fen, dann umarmen sie sich alle vier, Isa zieht Rosi herbei. Ihre Hand kommt auf Steffens Schulter zu liegen. Händeklatschen. Joho-Rufe. Alle freuen sich. Dann geht ein gesitteter Sturm auf die Bibliothek los. Die meisten haben das berühmt gewordene Flugblatt nie gesehen. Jetzt holen sie sich eins. Um es zu sehen und als Anden ken daran aufzubewahren, dass man in Henningstadt doch ein bisschen was bewegen kann.
    Der Sturm auf die Bibliothek hat natürlich den Effekt, dass wieder keine Flyer der Schwulen Initiative Henning stadt in der Bibliothek ausliegen...
    «Was machen wir mit dem angebrochenen Abend?», fragt Christian. Sie setzen sich alle hin und atmen erst mal kräftig durch. Es war spannend. Man kann nie wissen, ob nicht doch irgendwer durchdreht. Stadtverwaltung, Skins, Schwuchteln oder ihre Freundinnen.
    «Wir könnten ja noch zusammen was trinken gehen, wenn ihr mich dabei haben wollt», schlägt Rosi vor. «Na sicher kommst du mit!», sagt Isa. Henning nickt auch und lächelt. Rosi hat sich vorgenommen, Steffen kennen zu ler nen, weil er der Freund von Henning ist. Also eine Art Schwiegersohn. Die ersten kommen schon wieder aus der Bibliothek, den Flyer in der Hand.
     
     
     
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    «Will, ich will, ich will!», schreit die Gottesmutter und sackt mit dem Fuß in die Wolke ein, auf die sie stampft. «Wenn ich jetzt keinen Regenbogen über Henningstadt kriege, dann — »
    «Dann was», fällt ihr der Allmächtige ins Wort. Seine gewaltige Stimme dröhnt oberhalb der Wolken bis an die vier Enden der Welt. An dem einen Ende kann man ihn hören, aber da spricht niemand deutsch.
    «Dann wirst du schon sehen, was du davon hast!»
    «Mein liebes Kind,
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