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Henningstadt

Henningstadt

Titel: Henningstadt
Autoren: Marcus Brühl
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getöpferten Gegenständen gefüllt hat. Teil wei se auch mit schönen. In Hennings früher Jugend wur den dann sämtliche Töpfereiprodukte mit gehäkelten Deck chen unterlegt. Seit einem oder seit zwei Jahren sieht die Familie der Fertigstellung der linken gehäkelten Über gardine entgegen.
    Henning kommt sich vor, als liefe er hinter etwas her. Hinter einer Erkenntnis. Welche Erkenntnis? Das will er selber wissen, keine Ahnung. Auf jeden Fall düster. Eine düstere und dramatische Erkenntnis, wie man sie in dem Alter liebt. Aber sie schlüpft weg. Eine düstere, glitschige Erkenntnis. Er starrt in die Luft. Er sieht die gestaltlosen Umrisse der Erkenntnis in sich. Er kann sie auch fühlen. Nicht nur, dass sie glitschig ist. Sie tut auch weh. Das ist ihm jedenfalls schon klar.
    Das schreckt ihn aber nicht ab. Jede Erkenntnis ist schrecklich. Henning ist ja nicht doof. Alle Weisheit muss mit Schmerz erkauft werden. Schmerz und Askese. Aske se und Schmerz. Das hat man ihm schon längst beige bracht. Zum Beispiel die Sache mit dem Christus: Kein Schmerz, kein Himmelreich. Und natürlich kennt er auch den Wanderer durchs Gebirge, den alten Lenz. Unver hofft wedelt ein Vogel Schnee von einem Ast. Henning erinnert sich an die unendliche Wohltat der Kühle dieses Satzes. Leiden sei mein höchst Gewinst, singt die Gemeinde.
    Henning geht schnell ins Badezimmer. Er setzt sich aufs Klo. Wenn außer ihm niemand in der Wohnung ist, traut er sich, beim Scheißen wohlig zu grunzen. Kurz be gu tachtet er Form und Menge seiner Scheiße, spült ab und wäscht seine Hände gedankenlos. Er geht in die Küche und setzt noch mal Kaffee auf, geht ins Bad und dreht die Dusche auf, läuft wieder in sein Zimmer, nimmt eine frische Unterhose und frische, ziemlich weiße Ten nis socken. Seine Unterhosen findet er hässlich. Henning geht in die Küche und sieht nach dem Kaffee. Geht ins Wohnzimmer und macht Musik an, geht ins Schlafzim mer der Eltern, damit er wirklich weiß, dass sie weg sind. Er geht durch den Flur in sein Zimmer, schmeißt die Wäsche auf sein Bett, geht ins Bad.
    Er zieht sich aus. Das Wasser ist warm. Er zieht den Duschvorhang zu und lässt sich auf den Boden der Du sche sinken; er sitzt im Schneidersitz. Wasserdampf und Wassertropfen. Er beugt sich nach vorne, das Gesicht kurz über den Knöcheln.
    Er angelt nach dem Duschgel und seift sich ein. Wenn man langsam draufdrückt, bildet sich eine Seifenblase über der Öffnung.
    Wasser prasselt auf seinen Rücken und fließt an ihm runter, um ihn herum, fließt in einen Wirbel und in den Abfluss. Das Wasser ist schön auf seinem Rücken.
    Henning macht die Augen zu. Die Welt ist vor dem Duschvorhang geblieben. Er fühlt sich sicher und seine Muskeln entspannen. Er atmet tief ein, und als er aus atmet, ist sein Atem ein Schluchzen. Henning schluchzt.
     
     
     
    6
     
    Isabell geht die Straße. Die Straße nach Hause. Wie Rom ist Henningstadt auf sieben Hügeln erbaut. Das gibt seiner gebildeten Schicht ein gewisses Selbstbewusstsein. Scheißstadt!, denkt Isabell. Aus philosophischen Gründen zwar, die sie mit Henning teilt und die auch uns noch beschäftigen werden, aber eigentlich mehr, weil der Berg so steil ist. «Noch zwei Jahre Schule, dann bin ich hier weg!» Ihr Gesicht nimmt einen entschlossenen Ausdruck an. Das Haus ihrer Eltern kommt in Sichtweite. Die Häu ser haben Gärten und Vorgärten.
    «Hallo, hallo!», ruft die Mutter. «Wie war ’ s in der Schule?»
    «Schön war ’ s!», sagt Isabell ironisch. Sie war ja nicht da. Es grenzt schließlich an Kinderarbeit, dass man auch Samstags zur Schule soll, auch wenn es nur jede zweite Woche ist.
    «Andreas hat in der Pause angerufen, ob du krank bist.»
    «Weil ich nicht in der Schule war», ergänzt Isabell, da mit sie es wenigstens selbst sagt.
    «Wo warst du denn heute Nacht? Warst du bei Hen ning?»
    «Ja.» Pause. «Henning ging ’ s nicht gut. Seine Eltern sind ja weg, da hab ich ihn ins Bett gebracht.»
    «Und da musstest du gleich über Nacht dableiben?»
    «Ja, weil ich nicht im Dunkeln nach Hause gehen soll!» Pause. «Weil ich dableiben wollte. Wir haben dann noch zusammen gefrühstückt.»
    «Und, war der Sex gut?», fragt die Mutter schnippisch. Isabell ärgert sich. Isabell ärgert sich, weil ihre Mutter denkt, dass sie über Henning herfällt, wenn sie bei ihm schläft. Obwohl sie schon ein paar Mal klargestellt hat, wie ihr Verhältnis zu Henning ist: platonisch und freund schaftlich.
    «Ja,
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