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Helix

Helix

Titel: Helix
Autoren: Dan Simmons
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wir die Oberfläche erreicht haben, stellen wir fest, dass dort ein Vakuum herrscht. Alle Dinge und Menschen, die wir kennen, gekannt haben oder kennenlernen könnten, bleiben hinter uns zurück. Das ganze Leben lassen wir zurück und treten in die kalte, stille Sterilität des Kosmos ein. Wenn die Maschinen abgestellt werden, wenn die Mühen und die Schmerzen vorbei sind, wenn die Barriere zwischen Leben und Tod durchbrochen ist, dann vereint sich der Geist mit dem Kosmos, aber es ist einsam dort … so schrecklich einsam.«
    Die drei Kosmonauten schweigen einen Moment, dann müssen sie alle lachen. Viktor schenkt ihnen Wodka ein.
     
    Roth steht allein auf der plötzlich verlassenen, überdachten Veranda. Er sieht im Mondlicht einen alten Mann über die verschneite Wiese vor der Datscha wandern. Durch den Reif auf den Glasscheiben betrachtet, wirkt der alte Mann eher wie eine Erscheinung denn wie eine reale Gestalt – weiße Kleidung, weißes Haar, weiße Bartstoppeln, ein weißes, strahlendes Gesicht. Er hat die Arme gehoben, als wolle er Christus nachahmen. Der Mann schlurft durch den Schnee, die Hände und das Gesicht zum Nachthimmel gehoben.
    Roth stellt sein Glas auf den Tisch. Er will hinaus und den alten Mann nach drinnen bitten oder sich wenigstens vergewissern, ob er wirklich existiert. In diesem Moment kommen Viktor Afanasiew, Sergei Krikalew und Vasilisa wieder auf die Veranda heraus.
    »Ach, das ist der alte Dimitri Dimitrowitsch, Viktors Nachbar«, erklärt Sergei, der ausgezeichnet Englisch spricht. Der Kosmonaut hat in Houston trainiert, er ist im Shuttle geflogen und hat einige Monate auf der ISS verbracht. »Er lebt in der Hausmeisterwohnung der benachbarten Datscha und wandert öfter hier herum. Im Sommer ist es kein Problem, aber Viktor macht sich Sorgen, der alte Mann könne in einer Nacht wie dieser erfrieren.«
    »Was redet er denn da mit dem Himmel?«, fragt Vasilisa. »Ist er senil?«
    »Kann sein«, sagt Viktor. Er rüstet sich mit einer Daunenjacke und einer Pelzmütze aus, die er von einem Haken neben der Hintertür nimmt. »Er weint zum Himmel hinauf, weil sein Sohn ein Kosmonaut war, der nicht aus dem Weltraum zurückgekehrt ist.«
    Roth sieht ihn überrascht an. »Ist denn jetzt jemand da oben? Oder ist es jemand, der gestorben ist?«
    Viktor grinst. »Der Sohn des alten Dimitri ist Geschäftsmann in Omsk. Der alte Mann träumt und wandelt in seinen Träumen. Bitte entschuldigen Sie mich.« Er geht nach draußen, und Roth, Sergei und Vasilisa können durch das beschlagene Glas sehen, wie Viktor den alten Mann über die Wiese und durch die kahlen Bäume nach nebenan führt.
     
    Ein Kassettenrekorder spielt laute, martialische Musik, und dreißig bis vierzig Russen singen im überheizten Wohnzimmer den Text mit. Vasilisa geht zur anderen Seite des Raums und stellt sich neben Roth. »Das ist die inoffizielle Hymne der Kosmonauten«, flüstert sie, und dann übersetzt sie leise, während die Russen singen:
     
    Die Erde sehen wir durchs Fenster
    Wie der Sohn die Mutter vermisst
    Vermissen wir die Erde, es gibt nur die eine
    Aber die Sterne
    Sie rücken näher, doch sie sind kalt
    Und wie in dunklen Zeiten
    Wartet die Mutter auf ihren Sohn und wartet die Erde
    auf ihre Söhne.
    Wir träumen nicht vom Maschinenbrüllen im Kosmodrom
    Wir träumen nicht von diesem eiskalten Blau
    Wir träumen vom Gras, vom Gras neben dem Haus
    Vom grünen, grünen Gras.
     
    Die Russen applaudieren sich selbst, als das Lied zu Ende ist.
     
    Eine Stunde vor Mitternacht lernt Roth einen amerikanischen Millionär namens Tom Esterhazy kennen, der als nächster zahlender »Tourist« mit den Russen zur Internationalen Raumstation fliegen wird. Esterhazy, der nur Wasser aus Flaschen trinkt, erklärt, er habe in Los Alamos und am Santa Fé Complexity Institute in der mathematischen Forschung gearbeitet, bevor er einige Millionen damit machte, neue Theoreme der Chaos-Mathematik auf dem Aktienmarkt umzusetzen.
    »Der Markt ist einfach nur ein kompliziertes System, das ständig am Rande des Chaos schwankt«, erläutert Esterhazy. Er spricht leise, aber so nahe an Roths Ohr, dass seine Worte im allgemeinen Lärm gut zu verstehen sind. »Wie der Mond Hyperion. Wie die Dynamik der Wellen auf einer Flagge im Wind oder wie die geringelte Rauchwolke, die von einer Zigarette aufsteigt.« Der junge Mann deutet auf die Rauchwolke, die wie eine Nebelbank im Raum hängt.
    »Nur dass Sie nicht ein paar hundert Millionen Dollar
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