Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Helix

Helix

Titel: Helix
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
zu halten – und zieht den Pelz an, den Viktor dort zurückgelassen hat.
    Dann tritt er in die kalte Nachtluft hinaus.
    Das Mondlicht funkelt blau auf der breiten Hügelflanke, die zu einem gefrorenen See hin abfällt. Die Wolken sind abgezogen, und das Schneegestöber hat aufgehört. Mond und Sterne stehen so hell am Himmel, dass Roth einen langen Augenblick nach oben schaut, ehe er sich auf die Suche nach dem alten Dimitri macht.
    Er findet ihn zwanzig Meter unterhalb des Hauses, eine weiße Gestalt am Rand eines Birkenwäldchens. Der Schnee bricht und knirscht unter Roths Straßenschuhen.
    Er öffnet den Mund, um den Namen des alten Mannes zu rufen, doch die Luft ist so kalt, dass sie ihm in die Lungen schneidet, als befände er sich in einem Vakuum. Roth keucht und presst die Hände auf die Brust.
    Er konzentriert sich darauf, ruhiger zu atmen, während er den bläulich schimmernden Raum bis zu dem alten Mann überwindet. Der Mann kehrt Roth den Rücken zu und starrt durch die Äste der Birken zum Nachthimmel hinauf. Der alte Dimitri hat beim ersten Mal weite Hosen und einen Pullover getragen, doch jetzt ist er mit langen weißen Gewändern bekleidet, die Roth an ein Leichenhemd erinnern.
    Roth bleibt eine Armeslänge vor dem alten Mann stehen und blickt auch zum Himmel hinauf. Irgendetwas – vielleicht ein Satellit oder eine hoch fliegende Militärmaschine, vielleicht sogar die Raumstation, obwohl Roth nicht sicher ist, ob man sie von Moskau aus sehen kann – bewegt sich vor den Sternen wie ein fliegender Diamant.
    Roth senkt den Blick wieder, als der alte Mann sich umdreht.
    Es ist Roths Vater.
    Roth hebt eine Hand und fasst sich an die Brust. Als wolle er antworten, hebt auch sein Vater eine Hand. Zuerst glaubt Roth, sein Vater werde ihn berühren, sein Gesicht streicheln oder das schmerzende Herz seines Sohnes beruhigen, aber der Arm und die Hand gehen weiter nach oben, bis der lange Finger auf etwas zeigt, das hinter und über dem Autor am Himmel steht.
    Roth dreht sich um, und in diesem Augenblick erfüllt ein gewaltiges Brüllen die Luft. Schlagartig wird es hell, und das Licht umgibt ihn und dringt in ihn ein, als befände er sich mitten in einem Feuer. Er schließt fest die Augen und presst sich die Hände auf die Ohren, doch das grelle Licht und das Brüllen brechen durch und bedrängen ihn.
    Flammen. Die Flammen eines selbstzündenden Treibstoffgemischs, Feststoffraketen werden aktiviert, die Hauptantriebe des Shuttles feuern ebenfalls, und die dreifachen Schubdüsen der Sojus explodieren förmlich und geben ihre Energie ab.
    Lärm. Das Brüllen von Millionen und Abermillionen Erg und Joule und Schub pro Quadratzentimeter brechen in dieser Nacht in einer einzigen Sekunde, in einer Millionstelsekunde, los. Das Grollen einer Saturn V, fünf Maschinen brüllen gleichzeitig. Ein tobendes Inferno, die Explosionen einer Marsrakete, das Bellen einer dreistufigen N-1- Mondrakete.
    Er ist gestürzt, aber er fällt nicht. Roth schwebt schräg in der Luft, anderthalb Meter über dem Boden. Sein Vater hält ihn und wiegt ihn.
    »Entspanne dich«, sagt sein Vater. Er stützt ihn unter den Schultern und Beinen. »Lass dich schweben. Lass das Meer die Arbeit tun. Ich lasse gleich los.«
    Sein Vater gibt ihn sanft frei.
    Das Brüllen und die Flammen und die Schwingungen umgeben ihn wieder. Roth fasst den linken Arm mit der rechten Hand und spürt das Brüllen als Anspannung, die Flammen als Schmerz, doch dann gehorcht er seinem Vater und entspannt sich, breitet die Arme weit aus, legt sich zurück und spürt, wie die Schwerkraft nachlässt.
    Roth lässt sich vom Toben der Maschine in den Himmel tragen. Er sieht Baikonur weit unter sich liegen wie ein schneebedecktes Schachbrett, er sieht Florida unter sich wegfallen wie einen gestreckten Finger, er sieht das Grün der flachen Küstengewässer schwinden, bis überall nur noch das Dunkelblau der Tiefsee auszumachen ist.
    Er steigt mit dem Brüllen und durch das Brüllen auf, er rast durch hohe Wolkenbänke, er spürt, wie Luftdruck und Schwerkraft nachlassen, während der Himmel schwarz wird und die Sterne ohne zu blinzeln am Himmel brennen.
    »Norman. Norman!«
    Er hört die Stimme durch das Tosen und weiß, dass es Vasilisa ist. Er spürt abwesend ihr Knie unter dem Kopf und ihre Hände, die auf seiner Brust die Knöpfe öffnen. Doch dann verschwindet die Stimme, geht im Brüllen und im Strahlen unter.
    Die Feststoff-Startraketen fallen ab.
    Die erste Stufe wird
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher