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Helix

Helix

Titel: Helix
Autoren: Dan Simmons
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wie er es am Morgen seines tragischen Fluges am 27. März 1968 zurückgelassen hat. Die Zeiger der Uhr stehen auf 10:31 Uhr, der Augenblick des Aufschlags. Sein Terminkalender liegt geöffnet auf dem Tisch, Briefe und Aktennotizen blieben unvollendet.
    Vasilisa deutet auf den Schreibtisch. »Jeder Kosmonaut oder jede Mannschaft von Kosmonauten unterschreibt am Tag des Starts dort in diesem großen braunen Buch«, sagt sie leise. Sie flüstert fast in diesem heiligen Raum. »Auch unsere Kosmonauten, die zur Internationalen Raumstation fliegen.«
    Roth sieht sie an. Vasilisas Augen schwimmen, als sie das Buch betrachtet. Sie bemerkt, dass er sie anschaut. »Sie halten mich für sentimental, was?«
    »Nein«, sagt Roth. »Für spirituell.«
     
    Roth träumt, er sei an Bord der Internationalen Raumstation, er schwebt in trübem Licht im Raum. Ein anderer Astronaut, ein Mann, schläft. Er ist in einer Art dünnem Schlafsack angegurtet, der ihn aufrecht hält. Die Arme ragen heraus und schweben vor ihm, die Handgelenke sind abgeknickt, und die Finger bewegen sich wie Tang in der Strömung.
    Roth ist überrascht, wie laut der Ventilator ist, wie nüchtern und funktionell und scharfkantig das Innere des Moduls und der Raumstation aussieht. Die Luft riecht leicht nach Ozon und Schweiß und Maschinenöl. Er stellt fest, dass er sich lautlos bewegen kann, wenn er sich von einem massiven Objekt abstößt. Er schwebt mit dem Kopf voran, ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen, durch eine Luke in ein benachbartes Modul. Hier gibt es ein Bullauge. Roth schwebt hinüber und schaut nach draußen. Die Erde hängt über ihm und hinter einem dunklen Sonnensegel, das wie ein Ausrufezeichen hervorragt.
    Die Station nähert sich dem Terminator, der Grenzlinie des Sonnenaufgangs. Ein Teil des Planeten tritt als grelle Sichel stark hervor. Einen Augenblick lang kann Roth die dünne Atmosphärenschicht wie eine von hinten beleuchtete Aura sehen, dann steigt die Sonne über die Welt und entzündet Tausende von Wolken über dem dunklen Meer.
    Plötzlich wird Roth bewusst, dass er an Atemnot leidet. Die Luft ist zu dünn. Er dreht sich in der kaum wahrnehmbaren Schwerkraft um die eigene Achse und hört ein ständiges bedrohliches Zischen. Der Ton wird höher, doch die Lautstärke sinkt, während die Luft immer dünner wird. Die Luft entweicht aus der Raumstation.
    Keuchend dreht Roth sich im Modul um, aber er hat sich zu weit von der Sichtluke entfernt, ist zu weit von festen Gegenständen entfernt. Er kann nur hilflos mit Armen und Beinen rudern, überschlägt sich in der dünnen Luft und kann sich nicht schwimmend in Sicherheit bringen.
     
    Roth erwacht, als er eine kühle Hand auf der nackten Brust spürt. Blinzelnd vertreibt er die Nachbilder des Traums und sieht sich im Hotelzimmer um. Es ist dunkel bis auf einige Streifen Mondlicht, die durch die schweren Vorhänge fallen. Vasilisa, die Roths blauen Reserveschlafanzug trägt, sitzt auf der Bettkante. Sie hat sich mit einem Stethoskop ausgerüstet und presst die Hand auf Roths Brustkorb.
    »Was ist los?« Er will sich aufsetzen, doch sie hält ihn mit erstaunlicher Kraft zurück.
    Das Stethoskop drückt kalt auf seine Brust. Vasilisa legt das Instrument auf den Nachttisch und berührt noch einmal seine Brust, fährt mit zwei Fingern über die große, kreuzförmige Narbe auf der nackten Haut, langt nach unten und tastet die lange Narbe auf dem linken Bein ab, wo ihm bei der letzten Operation eine Vene entnommen wurde.
    »Erinnerst du dich an das Abendessen?«, fragt sie leise. Die Uhr zeigt auf 3:28 Uhr.
    »Nein«, flüstert Roth, aber dann kehren die Erinnerungen zurück. Sie haben im Speisesaal des National bei einem späten Abendessen gesessen, als die Schmerzen in der Brust begannen. Er hatte nach den Nitroglyzerintabletten getastet und sich eine in den Mund geschoben, doch die Erleichterung war nicht wie sonst augenblicklich eingetreten. Roth erinnert sich, dass sie ihm geholfen hat, den höhlenartigen Speisesaal zu verlassen, dass sie ihm im Aufzug geholfen hat, aufrecht zu stehen, dass sie ihm die Zimmertür geöffnet hat, und dann … verworrene Bilder … der Einstich einer kühlen Nadel und eine unklare Erinnerung, dass sie sich neben ihm ins Bett gelegt hat. »Mein Gott«, sagt Roth. »Das ist nicht unbedingt die Art und Weise, auf die ich mit Ihnen ins Bett gehen wollte.«
    Vasilisa lächelt und knöpft ihm das Schlafanzughemd zu. »Ich auch nicht, Norman. Ich habe überlegt, ob ich
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