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Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Titel: Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
Autoren: Angelika Meier
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nein, wie üblich, liegt eher an mir. Sehe ich so besonders müde aus?«
    Er lächelt wohlkalkuliert ironisch, sieht dadurch noch müder und dadurch wiederum ungemein lebendig aus. Er weiß, dass diese Komödie der Müdigkeit, in der er, mechanisch präzise wie ein Glockenspiel, einmal in der Minute den stumpfen Schleier von seinen Augen hebt und dem Gegenüber für einen Moment, der so kurz ist, dass man nie weiß, ob man es wirklich gesehen oder nur geträumt hat, die Monstranz ihres grünen Feuers entgegenhält, wesentlich für seinen notorischen Charme verantwortlich ist. Die meisten Patientinnen sind spätestens nach ein paar Wochen bei uns ganz verrückt nach seinem lässig erschöpften Raubkatzengebaren, selbst die, die eigentlich gar nicht verrückt sind, spielen verrückt in seiner Gegenwart. Es gibt viele, die sich ausschließlich von ihm schocken lassen wollen, und er selbst versucht anstandshalber, sich wenigstens hin und wieder für diese abgeschmackt hysterische Begeisterung zu verachten, oder eher für seine Abhängigkeit von ihr. Seinen allmonatlichen, cognac-initiierten Zerknirschungsschüben sind freilich schon allein dadurch enge Entfaltungsgrenzen gesetzt, dass es nun einmal seine Aufgabe ist, die selten gewordene Spielart von autoerotischer Hysterie zu reanimieren, in der die Probanden glauben, den überflüssigen und reichlich beschwerlichen Umweg einer fremdpersonalen Projektion beschreiten zu müssen, um an ihr Ziel zu gelangen.
    »Ja, in der Tat, Holm, Sie sehen heute ganz besonders müde aus, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«
    »Oh, danke für das Kompliment.« Er zwinkert mir zu und fährt dann ernster fort: »Und vor allem danke, dass Sie mich schon wieder hier ablösen, das ist wirklich sehr nett von Ihnen.«
    »Keine Ursache, das mache ich wirklich gern. Und außerdem wollte ich die Gelegenheit nutzen, Sie etwas zu fragen …«
    »Nur zu!«
    Aber statt zu fragen, drehe ich nur den Kopf etwas beklommen nach rechts und links, wo die Patienten im Bettspalier hintereinander auf dem Flur liegen und den Stimmen lauschen, die leise aus dem Saal kommen, einige stöhnen, manche kichern. Doch die meisten Patienten blicken ausdruckslos in den dunklen Himmel, der durch die Glasdecke auf sie niederzufallen scheint. Holm versteht, zieht mich an der Rechten noch näher an sich heran und fragt mit gedämpfter Stimme:
    »Sie meinen vertraulich? Es geht um Ihren Eigenbericht, habe ich recht?«
    »Ja genau. Sie wissen, dass ich ihn jetzt dringend schreiben muss?«
    »Jaja, Dänemark erwähnte neulich, dass Sie jetzt dran sind. Aber Sie haben ja noch bis zum Jahresende Zeit, oder? Neun Monate, das ist doch locker zu schaffen, das ideale Maß geradezu.«
    »Siebeneinhalb.«
    »Naja, immer noch locker. Idiotische Sache, aber da müssen wir nun mal durch. Bisschen mehr Augenringe, Schlaflosigkeit, Stimmen und so weiter, keine schöne Zeit, aber weiß Gott auch kein Martyrium. Schreiben Sie die Sache einfach irgendwie runter, es kommt, wie’s kommt, wie man so sagt. Und die Beurteilungskriterien durchschaut man sowieso nicht, also müssen Sie sich darum immerhin nicht unnütz Sorgen machen.«
    »Hm, das ist ja ungeheuer erleichternd.«
    »Jaja, ich weiß, es ist unerfreulich alles in allem, aber so ist es nun mal. Aber Sie hatten eine konkretere Frage …?«
    »N-nein, eigentlich nicht, das heißt … ich wollte fragen, ob Sie vielleicht einmal, wenn ich dann ein paar Seiten habe, unter Umständen ein Auge …«
    »Na, das ist jetzt aber ein schlechter Scherz!« Er lacht nervös auf, lässt meine Hand plötzlich los und vergisst für einen Moment ganz seine laszive Müdigkeit, fängt sich aber augenblicklich wieder. »Wir sprechen ein andermal, die Stimmen warten leider auf Sie.«
    »Ja gut, ich geh dann mal. Irgendwas, worauf ich …?«
    »N-nein, ich glaub nicht. Ach doch – die arme Frau Schneider. Sie sagt, sie träume unablässig, tags wie nachts den Satz Ich möcht’ so gern gen Italien reisen , und sie höre den Satz sowohl aus sich selbst als auch aus dem Saal heraus zu ihr sprechen. Und nun will sie mir weismachen, Sie ahnen es, dass das gen Italien nichts anderes als Genitalien bedeute, logisch. Die Gute besteht also unbedingt darauf, sich unbewusst ins Genitale bewegen zu wollen, immer die alte Leier, so habe man es früher gelesen, schauen Sie in die Enzyklopädie, Herr Doktor, ich hab’s nachgeschlagen, Herr Doktor, gen Italien lässt sich sinnreich nur mit Genitalien übersetzen und
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