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Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Titel: Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
Autoren: Angelika Meier
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Sinnen und geistiger Teilnahmslosigkeit die schlafenden, nur durch die Glaswände getrennten Gesichter betrachte, die als ruckelnde Bilderreihe an mir vorüberziehen und die mir stets im Morgengrauen, wenn ich selbst für zwei Stunden schlafe, das neonblaue Nachbild eines Schlafmusters vor das innere Auge werfen, murmele ich den letzten Satz meiner Berichtseröffnung immer wieder vor mich hin: Sie vernehmen von mir Wahres nur, wenn Sie zuvor es mir gesagt haben. Sie vernehmen von mir … Der Satz mag lediglich als vage Orientierungshilfe oder sogar als bloße Formalie gelten, ich weiß nicht, ob andere, die ihn vor mir niedergeschrieben haben, heimlich über ihn gelacht haben oder nicht. Mir wird nur plötzlich klar, dass er wahr ist, tatsächlich wahr, und so will ich nun geduldig darauf warten, dass man mich wird vernehmen lassen, was ich Wahres werde schreiben können.
    Diese Entdeckung meiner Hörigkeit im wörtlichsten Sinn oder eher dieser Entschluss zu ihr ist zwar etwas peinlich, weil meinem Selbstbild, das insofern vollkommen mit der Wirklichkeit übereinstimmt, als ihm ausschließlich die tadellose Erscheinung meines Spiegelbilds zugrunde liegt, nicht recht gemäß, aber dann doch ungeheuer erleichternd, und so mache ich mich, nach Abschluss meines Kontrollgangs, auf den Weg in den Sprechsaal, um Dr. Holm abzulösen.
    Die Rotunde des Sprechsaals, die bei genauerer Hinsicht gar keine Rotunde, sondern ein Achteck ist, dessen Eckgelenke lediglich ein wenig im Fett der baröckelnd gerundeten Wände zwischen ihnen verschwinden, ist wie immer gleißend hell erleuchtet, und die vier hohen, in alle Himmelsrichtungen weisenden Flügeltüren sind so weit geöffnet, dass sie sich in tänzerisch überdehnter Hingabe umgeklappt an die Außenwände des Saals schmiegen, als wolle der Saal den vier in ihn mündenden Himmelskorridoren seine Brüste wie die einer monströs schönen Leiche entgegenstrecken. Wie immer wenn ich, das ikonographische Register meines Standes peinlich befolgend, die Hände souverän fahrlässig in den ausgebeutelten Taschen meines Kittels vergraben, dem Sprechsaal entgegenflaniere, schüttle ich mit herablassend gerührtem Lächeln den Kopf, um zu verhehlen, dass der Anblick des verschmockten Saals mich trotz seiner offenkundigen Lächerlichkeit und trotz all der Jahre, die ich nun schon hier arbeite, jedes Mal mit einem Unbehagen erfüllt, das Angst zu nennen mir zu theatralisch erscheint.
    Referent darf sich nicht vom Sprechsaal einschüchtern lassen, so steht es sogar in seinem Arbeitsvertrag, in einer eigentlich durchaus überflüssigen Klausel. Referent hat ihn nicht zu fürchten, da er ja schließlich alles über ihn weiß. Im Gegensatz zu den Patienten weiß er, dass die runde Form des Saals, seine Ausrichtung in alle vier Himmelsrichtungen, seine weißrosa muschelgekalkten Steinwände, übrigens die einzig steinernen im ganzen Haus, der seltsam helle Eichenparkettfußboden, die hohen, weißen Holztüren, das blendende Licht, das er pausenlos in die Flure ausstrahlt – dass all das nur zum Schein darauf hindeutet, dass er das lichte Herz der Klinik ist. Mögen die Patienten ihn auch dafür halten, weil sie nie einen vollständigen Überblick über die Station, geschweige denn über die gesamte Klinik gewinnen können, so ist er doch nicht das Zentrum des Hauses, sondern liegt vielmehr im Nordostwinkel der Station. Und anders als die Patienten weiß Referent, dass der Saal keineswegs einzigartig ist, denn alle drei Stationen unserer Klinik haben ihren eigenen Sprechsaal und alle drei Sprechsäle gleichen einander vollkommen. Sollte ich also einmal kopflos durch das Haus irren, wovor mich die Klinikleitung bewahren möge, und stünde dann plötzlich vor dem Sprechsaal, so vermöchte ich nicht zu erkennen, ob ich mich auf der eigenen Station A oder aber auf B oder C befände. Aber glücklicherweise weiß Referent genau, wo er ist, und da kommt mir auch schon der müde lächelnde Dr. Holm entgegen, die Hände ganz genau so in den Kitteltaschen vergraben wie ich.
    Einen Meter voneinander entfernt ziehen wir langsam die schwere Rechte aus dem Kittel, und die eine schüttelt die andere, mit dem halben Kreuzstich der Arme nähen wir unsere Figuren aneinander, nachlässig routiniert und doch mit der angedeuteten Kraft verbindlicher Empathie, denn wir mögen uns sehr, jedenfalls mag Referent den anderen Referenten sehr.
    »Schlimme Nacht, Dr. Holm? Höheres Stimmenaufkommen als gewöhnlich?«
    »Nein
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