Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Titel: Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
Autoren: Angelika Meier
Vom Netzwerk:
Sternbilder je nach der inneren Kultur der Zeit entweder zu Magie, also einer monströsen kultischen Ekstase, geführt hat, oder aber zu einer mathematisch-kontemplativen Diastase, also zu Entformung, Kosmologie. Ja, genau so hat er’s … hab ich’s gesagt. Haben Sie das?«
    »Ja, ja.«
    »Entweder Magie, also der Glaube, die Zeichen der Zeit lesen zu können, die Namen beim Wort nehmen, über die Gestaltlosigkeit der Welt triumphieren, mit den kleinen verschmierten Händen am Heiligen herumtappen, oder aber entrückende Durchsicht, Distanz, Abstraktion. Haben Sie das?«
    »Ja, ja.«
    »Verstehen Sie es auch?«
    »Hm … so ungefähr, kommt drauf an, wie’s weitergeht.«
    »Ja, darauf kommt es euch immer an, immer wissen wollen, wie’s weitergeht, ihr Rattensäue von Ärzten!« Mit seiner von der Schreierei kaputten Stimme lacht er sein kratziges Spottlachen. »Prognose durchaus günstig – Prognose durchaus ungünstig ! Je nachdem, wie der Herr Doktor gerade scheißt oder fickt, aber immer wissen wollen, wie’s weitergeht! Aber damit ist jetzt Schluss! Darauf kommt es heute nicht mehr an! Nie mehr!«
    »Sie beruhigen sich jetzt, Professor, oder ich stecke Sie wieder ins Bett – ohne Rhabarberopium!«
    Patient verfällt in Schimpfparoxysmus, brüllt die üblichen gemeinsten Obszönitäten, lässt sich aber durch Androhung von fünftägiger Bettruhe und Vorzeigen der Schlafmittelsonde schnell beruhigen, entschuldigt sich, gibt zu, dass seine Raserei halbe Pose war, und räumt ein, dass der Tag nicht recht geeignet ist für die Fortführung seiner wissenschaftlichen Arbeit. Danach bis zum Abend durchgängig gut, nett und rücksichtsvoll, darf Referenten zum Abendessen auf die große Terrasse begleiten.
    Da Patient trotz von ihm selbst eingeräumten besseren Wissens in durchgängiger Zwangsvorstellung gefangen, dass in das Essen die moussierten Leichen seiner von der Klinikleitung ermordeten Familienmitglieder gemischt werden, bekommt er neuerdings Vor-, Haupt- und Nachspeise doppelt serviert, sodass er von dem jeweils einen Teller relativ angstfrei essen kann, solange der zweite Teller unberührt danebensteht und Patient sich durch diese List versichern kann, seine Liebsten nicht verspeist zu haben.
    Nach dem Essen überaus zufrieden und still, nickt mit schräg in die Hand gestütztem Kopf im Takt der leise herüberwehenden Musik, lächelt dankbar in Richtung der Musiker. Unwillkürlich ahme ich ihn nach. Es ist ein unwirklich schöner Maienabend, die Luft ist die leichteste des Jahres, sonnengewärmt und doch frisch, und Fliederduft umhüllt das ganze Haus. Noch immer etwas flach einatmend, lasse ich meinen tagesstieren Blick von der Leine, er lässt sich ins Gras fallen und rollt dann auf der sanften Kaskade der sattgrünen Wiesen hinab ins Tal, wo ich ihn wegen der einsetzenden Dunkelheit aus den Augen verliere. Nun endlich ergreift von meinen Augen ausgehend ein köstliches schwarzes Nichts meinen gesamten Kopf, weshalb ich das Gemurmel des Patienten lange für ein unsichtbares Bächlein halte, bis sich mit seinem lauter werdenden Gerede auch die Leinwand vor mir wieder mit der Abendlandschaft füllt.
    » Konsequent, konsequent – inkonsequent, inkonsequent! So hat er’s gesagt! So und nicht anders! Pamplona, Pamplona!«
    »Ja, Herr Professor.«
    »Herr Doktor, Sie sind ein schlimmer Sünder, wissen Sie das überhaupt?«
    »Ja, Herr Professor.«
    »Im Ernst, wollen Sie nicht mir all Ihre Sünden gestehen?«
    »Ich bin nicht katholisch, Professor, ich glaube nicht an die Beichte.«
    »Was soll dann aber aus Ihnen werden?«
    »Das steht in den Sternen.«
    »Tatsächlich? Ich dachte nicht, dass dort … um Gottes willen, kommen Sie!« Er springt auf, die Patienten und Ärzte an den Nebentischen sehen mürrisch zu uns herüber, weil er das Streichquartett nun entschieden stört. »Wenn es dort oben noch immer etwas zu lesen gibt – wir müssen das aufzeichnen gehen, kommen Sie, kommen Sie, um Himmels willen!«
    »Schschsch, gut, gut, gut«, ich ziehe ihn am Arm wieder herab auf seinen Stuhl, sehe ihn begütigend oder vielleicht eher drohend an. »Ich habe nur gescherzt, verzeihen Sie, das war dumm von mir, ich hätte wissen müssen, dass Sie das aufregen würde. Seien Sie unbesorgt, dort oben steht nichts.«
    »Aber … aber …«, er nimmt verwirrt seine Brille ab und putzt sie so kräftig mit dem über die Kante herabhängenden Tischtuch, dass ich fürchte, das Fensterglas könnte jeden Moment zerbersten.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher