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Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Titel: Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
Autoren: Angelika Meier
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gleich, sofort, ich möchte nur noch kurz das Ende der Übertragung mitbekommen.«
    »Nein, das kann noch Stunden dauern, und überhaupt haben Sie hier gar nichts zu suchen. Ich wüsste nicht, dass ich Ihnen Stimmenhören verordnet habe, oder habe ich da was vergessen?«
    »Nein, aber vielleicht tät es mir gut – ach, ich weiß nicht, was mir noch helfen soll!«
    Er fährt sich gequält durch sein schwarzes, bis dahin vom Abendfriseur perfekt seitengescheiteltes und geöltes Haar, aber seine Müdigkeit wehrt seine ohnehin etwas lasche Verzweiflungsattacke leichthändig ab und lässt ihn wieder willenlos gähnen.
    »Na also, marsch ins Bett jetzt, oder muss ich erst den Pfleger rufen?«
    »Nur noch ein, zwei Stimmen, bitte!«
    »Zum letzten Mal, der Sprechsaal ist nicht für Ihre Ohren bestimmt.«
    »Ach, was soll ich schon groß hören? Der Lauscher an der Wand hört die eigene Schand, das ist alles.«
    »Sehr klug, mein Junge, aber so weit sind Sie noch nicht. Sie gehen jetzt –«
    »Papa?«
    »Hm?«
    »Bin ich ein verwunschenes Schloss?«
    »Nein, keine Sorge, mein Junge, sind Sie nicht.«
    »Ach wie schade, wie furchtbar schade …«
    Schon halb im Traum murmelt Patient letzteres dreimal vor sich hin, bis Referent ihm leicht auf die Schulter klopft, woraufhin Patient gereizt mit ihr zuckt, als wolle er meine Hand abschütteln, was zu wollen ihm aber nur halb gelingt, denn mit einem zweiten Zucken lässt er die Schulter kurz wieder zurück unter meine Hand schlüpfen. Dann torkelt er endlich davon, und ich sehe ihm noch eine Weile nach, in gar nicht mal übler Nachahmung jener gerührten Blicke, die Menschen anderen hinterherwarfen, um sich des eigenen Einfühlungsvermögens zu versichern.
    Aber darum geht es Referent nicht, wenn er Patient gerührt hinterher sieht, er braucht lediglich einen Vorwand, um sich noch eine letzte Minute vor dem Sprechsaal zu drücken, der mir seinen Blick stumm in den Rücken bohrt, ja, er schweigt jetzt tatsächlich, alle Stimmen sind verhallt. Die Patienten in den Betten warten ängstlich auf Antwort, einer nach dem anderen fängt langsam an, in verhaltener Panik oder zumindest unbehaglicher Verwunderung den wachträumenden Kopf mit den weit aufgerissenen Augen darin zu heben, nur um ihn wegen der schmerzenden Nackenanspannung sogleich wieder aufs Kissen sinken zu lassen, und so entsteht ein unkoordinierter Kanon des Kopfhebens und -senkens unter den Patienten im Bettspalier, doch der Sprechsaal schweigt weiter stoisch, weil der Schichtwechsel nicht ordnungsgemäß verlaufen und das Echoaggregat daher erschöpft ist. In spätestens zwei Minuten wird der Stördienst kommen und fragen, was hier los ist, aber eine halbe Minute noch kann ich mich drücken, indem ich gebannt zuschaue, wie Evelyn weitertorkelt, bis er, wie jeden Abend, am Ende des Gangs, kurz vor seiner Zimmertür zusammensinken wird, wo ein Pfleger ihn aufheben und ins Bett tragen wird, von meinem vorgeschützten Rührblick begleitet, was nicht heißen soll, dass ich für Evelyn, der sogar jetzt noch, kurz bevor er vor Müdigkeit umfällt, bemüht ist, meinen Gang zu imitieren und seine Sache dabei beleidigend gut macht, nicht auch tatsächlich so etwas wie echte Rührung oder eher aufrichtige Schuldgefühle empfinde, denn ich, der ich längst aus den Spiegelkabinetten meines früheren Lebens entlassen bin, kann durchaus ganz unangekränkelte Empfindungen haben. Sie dürfen nur keinerlei Relevanz für Patienten, geschweige denn für Referenten haben.
    Es ist nicht nur unverantwortlich, sondern unsinnig, ja vollkommen kindisch, dass Referent sich immer wieder ein paar nutzlose Minuten lang vor dem Sprechsaal herumdrückt. Ich kann mir diese, soweit ich sehe zwar einzige, oder zumindest einzig eindeutige, aber dafür willentliche – sofern wir Willensschwäche für eine willentliche Schwäche halten wollen, und das sollten wir wohl – Verletzung seiner Dienstpflichten selbst nicht erklären, zumal er die Stimmenschicht ja sogar freiwillig, vollkommen freiwillig immer wieder anderen abnimmt, die sich dadurch mit ihrem gleich schichtweisen Dispens vom Saal freilich noch kindischer verhalten als Referent. Denn das Stimmensprechen ist nun wirklich keine besonders schwierige oder gar unangenehme Tätigkeit, ein wenig belastend höchstens wegen seiner einschläfernden, aber zugleich höchste Konzentration verlangenden Repetitivität: Einmal kurz nicht richtig zugehört, und schon hat man, mit nicht absehbaren Folgen für die
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