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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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Trauerweiden und schwarze Schwäne mit Ketten um den Hals, und immer wieder sah er sich selbst von Brücken ohne Geländer in schwarze Gewässer springen.
    Die Menschen, die Griesinger von der Innenstadt zur Großmarkthalle zu treiben und dabei – das war ihm schon bei dem zur allgemeinen Zufriedenheit verlaufenen ersten »Transport« von zwei Vorgesetzten eingetrichtert worden – so wenig Aufsehen wie möglich bei der Bevölkerung zu erregen hatte, erschienen ihm wie die Kühe und Schafe vom Bauern. Mit seinen Tieren konnte ein Bauer ja machen, was er wollte. Die lebten nur so lange, wie er sie am Leben lassen wollte, und ebenso konnte der SA-Mann Griesinger mit den Menschen verfahren, die ihm überlassen wurden. Er durfte sie drangsalieren, bis sie zusammenbrachen, und sich an ihrer Todesangst weiden, er war Sonne und Mond, König und Herrscher der Welt. Ein Mann, den er zusammentrat, eine besinnungslose Frau auf der Straße, ein Kind mit Augen, die den Schrecken nicht fassen konnten, sie alle bereiteten dem SA-Mann Griesinger weniger Unbehagen als eine Nuss, die in den Zähnen steckte. Sein Blut geriet nicht wegen ein paar Juden in Wallung, die er in der Großmarkthalle abzuliefern hatte. Wenn sein Auftrag erfüllt war, wenn er seine Pflicht getan hatte, schmeckte ihm das Essen nicht besser als an den Tagen, da von ihm keine Bewährung verlangt wurde. Wenn er zum Himmel sah, nachdem er die Juden abgeliefert hatte, strahlten die Sterne nicht heller, doch beim Ausziehen seiner Stiefel verfluchte er die Treppen, von denen er gestürzt war. Abends, wenn er im Bett die Decke anstarrte, sah er körperlose Gespenster, die bei Lebzeiten schon tot waren, aber die lange Arme hatten, mit denen sie nach Männern griffen, wie Griesinger einer war, Männer der Pflicht, die keine Fragen stellten und die in Abgründe schauen konnten, ohne zu schaudern.
    Der 19. Oktober 1941 war ein Tag wie viele andere – ein Tag mit grauen Gespenstern im grauen Nebel. Für ein paar Sekunden übernahm allerdings eine lähmende Benommenheit die Regie im Leben von SA-Mann Griesinger. Morgens um halb sieben starrte er betäubt die Großmarkthalle an. Ihm war es, als hätte er das mächtige Haus noch nie gesehen. Im Augenblick einer Panik, die seinen Körper steif werden ließ, erschien ihm die Menschenschlange, die er ins Ziel zu treiben hatte, wie ein Ungeheuer mit zwei Köpfen. »Anhalten«, kreischte der Satanische, ehe er die Orientierung endgültig verlor. Er keuchte, weil er wähnte, ein Mann würde Rache nehmen und ihn würgen. »Halt«, brüllte er und fasste sich wie ein Erstickender an den Hals, doch er hörte sich atmen und merkte, dass der Atem seinen Körper erwärmte. Seine Augen wurden von den Bildern erlöst, die einem deutschen Helden nicht zu kommen hatten. Griesinger, der Mann mit dem zu kurzen Bein, wurde wieder der, der er zu sein hatte. Eine Frau lag am Boden. Sie war nur noch ein Bündel aus schäbigem schwarzem Stoff; er wusste nicht, ob es die Greisin war, die er getreten hatte, und spannte sein Knie. Noch traf sein Stiefel nicht wieder, aber Manneskraft und die Lust am Leben kehrten zu ihm zurück. »Deinen Gott«, schrie er einen alten Mann an, der nach dem Retter im Himmel gerufen hatte, »gibt es nicht mehr. Merk dir das, Itzig. Er ist Adresse unbekannt verzogen.«
    Erst als er von Gott sprach, fiel Griesinger ein, dass es Sonntag war. Bei der Vorstellung, dass es in der gleichen Welt, in der er lebte, Menschen gab, die am Sonntag ihre Sünden bekannten und um Gnade flehten, lachte er so laut, dass die Narbe über seinem Ohr explodierte und Funken spie. Ein Junge von etwa fünf Jahren starrte ihn an. Der Gottlose machte die gleiche drohende Bewegung, die Vater Griesinger immer gemacht hatte, ehe er den Rohrstock vom Haken genommen und aus Leibeskräften auf seine Söhne eingeschlagen hatte. Das totenbleiche Kind trug eine zu große Schildmütze. Sie rutschte dem Kleinen bei jedem Schritt über die Augen, wurde aber in kurzen Abständen von seiner Mutter nach hinten geschoben.
    Die Glocke einer nahen Kirche schlug sieben Mal. Sie verkündete Frieden, Vertrauen, Hoffnung und Zuversicht. Die Luft war feucht und herbstschwer. Die Eichhörnchen schliefen noch in den Bäumen, Tauben hockten auf den Dächern. Die Straßenlaternen brannten nicht. Die erschöpften Menschen, die zur Großmarkthalle getrieben wurden, wussten alle, dass dies der letzte Tag in ihrer Heimatstadt war. Sie wussten auch, dass die Hölle sie erwartete,
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