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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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lang neben vier bärtigen Männern her, die, ohne ihre Lippen zu bewegen, Gebete an den richteten, an den sie immer noch glaubten. Schließlich erreichte die berauschte Dränglerin die Spitze der Kolonne. Jetzt, am Ziel, schaute sie sich nach den desperaten Menschen um, die hinter ihr waren. Die Frau winkte mit der Linken, von der eine weiße Sommerhandtasche baumelte; sie machte den Eindruck, als wollte sie ihre Leidensgenossen ermutigen, ihrem Beispiel zu folgen. In diesem Augenblick brüllte die peitschende Stimme des Mannes in SA-Uniform: »Los, ihr stinkendes Pack! Oder soll ich euch Beine machen, ihr Itzigs!«
    Es war – das wussten schon die Kinder – die Stimme des Teufels. Sie stand für Panik und Todesangst und die Unfähigkeit einst wohlgelittener, selbstbewusster Bürger, zu begreifen, dass für sie nur noch die Hölle offen stand. Mit den Verdammten aus Frankfurt wurden auch die jüdischen Menschen aus dem hessischen Umland abtransportiert; die hatten geglaubt, in der anonymen Großstadt würden sie sicherer vor Verfolgung sein als in ihren Heimatdörfern, wo sie ein jeder kannte. Nach dem Brand der Synagogen am 9. November 1938 waren die Juden aus Kleinstädten und Dörfern nach Frankfurt gezogen. Auch diese Unglücklichen, deren Geschick nun von der Willkür machtbesessener SA-Männer abhing, die den Zug begleiteten, waren vor Morgengrauen in ihren letzten Refugien abgeholt worden. Es waren verheerende Zwangswohnstätten gewesen, in die die Juden vor Kriegsausbruch von den Frankfurter Behörden eingewiesen worden waren. Von Monat zu Monat war die Existenznot dort größer geworden, die Hoffnung auf Entkommen starb täglich ihre tausend Tode. In diesen erbärmlichen Unterkünften, von der offiziellen Sprachregelung als »Judenhäuser« bezeichnet, hatten Polizei und Gestapomänner am 19. Oktober 1941 den Juden das letzte Geld, sämtliche ihnen noch verbliebenen Wertsachen, Kleidung, Geschirr, Besteck, selbst Kochtöpfe und Bettzeug abgenommen – zuletzt die Hausschlüssel. So wurde den Ausgestoßenen das letzte Stück ihrer vermeintlichen Sicherheit entrissen. Sie hatten keine Adresse mehr und keine Identität.
    Schon lange wurden die Personalausweise der Juden in Deutschland mit dem Buchstaben J für jüdisch gestempelt. Am 19. September 1941 war dann eine Verordnung in Kraft getreten, die den letzten Akt der Tragödie einleiten sollte. Ab sechs Jahren hatte Juden den »gelben Stern« zu tragen und wurden fortan in der Terminologie der Unmenschen als »Sternträger« bezeichnet. Das schwarz umrandete Stoffstück mit der Aufschrift »Jude« war so auf die Kleidung zu nähen, dass der »Sternträger« auf der Straße sofort und von jedermann als Jude zu erkennen war. So war aus dem sechseckigen Davidstern, jahrhundertelang das Symbol des Judentums, in Deutschland ein Brandzeichen geworden: Es stand für Erniedrigung, Ausgrenzung, Verfolgung und Tod.
    Vor einer Telefonzelle mit zersplitterter Tür befahl der SA-Mann: »Marschschritt!« Seine Stimme war Donnerwort und Höllenklang. Die Sklaven hielten den Atem an und starrten auf das Straßenpflaster. Sie spürten, wie ihr Körper starb und dass ihr Kopf leer wurde, doch keiner der Gepeinigten versuchte, sich gegen das Sterben zu wehren. Wem nichts geblieben war als der Koffer in der Hand, der schaute nicht mehr zum Himmel, der erwartete von Gott weder Gehör noch Beistand.
    Allein die Stimme des Satans, das Geräusch seiner Stiefel, die Flüche, obszönen Verwünschungen und die Drohungen, die jene, denen sie galten, noch nicht in voller Tragweite verstanden, gaben den bedrängten Menschen die Gewissheit, dass der Tod sie noch nicht erlöst hatte. Der Funke Leben, schon nicht kräftiger als ein glimmendes Kartoffelfeuer, begann zu verlöschen. Es regte sich keine einzige Hand, um den Wehrlosen zu helfen, niemand bot dem Teufel Einhalt, keiner schämte sich, ein Mensch zu sein. Der Satan massierte seine Stirn, weil ihn der Kopf schmerzte, und er dachte dabei an seine Mutter. Für den Sonntagabend hatte sie ihm Wurstgulasch und Kartoffelklöße versprochen.
    Ein Säugling wimmerte. Seine Klage war zu dünn, um auf Erden Aufmerksamkeit zu erregen, und zu schwach, um den himmlischen Beschützer der Kinder zu erreichen. Ein alter Mann, der bis dahin das Baby an seine Schulter gedrückt hatte, stopfte es erschrocken unter seinen dicken schwarzen Mantel und bewegte seine Lippen. Die Frau zu seiner Rechten streckte die Hand nach dem weinenden Enkelkind aus,
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