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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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doch ihr Mann, die Augen schon tot und das Herz versteinert, rückte entschlossen von der Gefährtin seines Lebens ab. Er machte seine Ohren taub für ihre Seele, obwohl er sie schreien hörte, und die Augen verschloss er vor ihrer Not, denn ihn hielt immer noch die Hoffnung aufrecht, er und das Kind würden ihrem Schicksal entkommen.
    Die Frau begann zu jammern. Zunächst waren nur leise Klagelaute zu hören. Noch kamen sie aus der Welt, in der die Menschen ihre Qual in die Welt der Starken hinausschreien durften. Plötzlich, als sie fast schon verstummt war, wurde die Frauenstimme schrill und hoch. Ihr verhärmtes, blasses Gesicht löste sich auf; es war wie ein Stück weißes Papier, das in einem stillen Wasser treibt. Stirn, Augen und Nase hatten weder Kontur noch Farbe, doch der Mund war vom Schreien übergroß geworden, war ein Loch in einem schäumenden Meer, eine teerschwarze, Angst einflößende Höhle.
    Die Greisin flehte in der Sprache ihrer Kindheit um Erbarmen. Mit beiden Händen umfasste sie ihren dürren Hals; sie keuchte, bis kein Atem mehr in ihrem Körper war. Der Knoten ihres grauen Kopftuchs löste sich. Einen Augenblick sah das zu Boden segelnde Tuch wie eine Fahne aus. Es glich einem gleitenden Papierdrachen, der sanft zur Erde zurückkehrt. Das flatternde Tuch fiel in eine Pfütze. Die Alte stellte ihren Koffer ab. Trotz der Schmerzen in ihrem Rücken bückte sie sich, um das kostbare Stück Wärme zu sich zu ziehen. Schon berührte die Hand, die den Koffer gehalten hatte, das nasse Straßenpflaster, doch die alte Frau rutschte aus, ehe sie ihr Tuch zu fassen bekam. Einen Augenblick schwankte sie, als könnte sich ihr Körper nicht entscheiden, wohin er fallen würde. Dann stürzte sie wie ein gefällter Baum zu Boden und konnte nicht mehr aufstehen.
    »Das würde dir so passen!«, brüllte der SA-Mann. Sein breites Gesicht war feuerrot. Als er seinen Zorn und den Hass, der jeden Nerv zerfraß, aus dem Körper schleuderte, färbte sich die lange Narbe über seinem rechten Auge violett. Sein gestiefelter Fuß trat auf die Hand am Boden. Weit ausholend versetzte er der Frau zwei Tritte in den Rücken. Sie heulte wie ein Hund auf, der mit einer eisernen Kette geschlagen wird, und konnte sich nicht umdrehen. Ihr Mann, das Baby immer noch unter dem Mantel, versuchte nun doch, seiner Frau beizustehen. Er machte einen kleinen Schritt in ihre Richtung, streckte den linken Arm aus, der Gestiefelte stieß ihn jedoch zur Seite. »Das machst du nicht noch einmal, du verdammte Schlampe«, kreischte er. »Nicht mit mir.«
    Er schlug mit einer ledernen Peitsche zu, die er unter seiner Jacke herauszog. Ein einziger Hieb reichte. Die alte Frau, die mit letzter Kraft versucht hatte, wieder auf die Füße zu kommen, fiel endgültig um. Wie ein Stein lag sie auf der Straße, das Gesicht auf das Straßenpflaster gedrückt. Keiner machte eine Bewegung, um zu ihr zu gehen, und keiner wusste, ob sie noch lebte.
    »Na also«, sagte der Teufelsjünger. Seine Stimme war ruhig und fest. Sie klang zufrieden und beherrscht; in den Ohren derer, die ihm gleich waren, klang diese Stimme wie die Stimme eines Menschen.
    Die Stunden, die vergangen waren, seitdem er begonnen hatte, die Wehrlosen und Verzweifelten in die Hölle zu hetzen, waren ihm lang geworden. Noch am Abend zuvor hatte der Schinder seinem Kumpel aus der Frühzeit der Bewegung erklärt, es müsste »zur Grundausbildung eines jeden deutschen Mannes gehören, den Judde Mores zu lehren«. Jedoch stellte sich die Befriedigung, die der bei seinen Vorgesetzten angesehene SA-Mann beim Kujonieren und Misshandeln erwartet hatte, nicht ein – weder auf den ersten Kilometern des endlosen Marsches noch auf den letzten. Dem willfährigen Verwalter der Unmenschlichkeit machte es viel mehr Mühe als beim erregenden ersten Mal, erschöpfte Frauen, verängstigte Kinder, die stolpernden Greise und die vielen Elendsgestalten, die seine Augen beleidigten, wie Schlachtvieh vor sich herzutreiben. Nicht nur in Nächten, da der Schlaf ihn nicht rechtzeitig erlöste, kam dem SA-Mann der Gedanke, dass Juden aus der Stadt zu prügeln eine Aufgabe wäre, die jeder Dorftrottel und erst recht die Drückeberger aus den Amtsstuben ebenso gut hätten verrichten können wie er. Es empfand es als Zumutung und Hohn, dass ein Mann in SA-Uniform sich mit den Juden abzugeben hatte, »die nicht den Grips gehabt haben, sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen. Die«, beklagte er sich bei seinem
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