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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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hatten aus Mehl und Haferflocken und einer Sonderzuteilung von Eiern einen Kuchen gebacken. Die Bürgersteige waren ordentlich gefegt, die Haustürklinken blank gewienert, die Hecken geschnitten. Lediglich die verdunkelten Wohnungsfenster und eine Telefonzelle mit einem Aufkleber »Feind hört mit« an der Tür zeigten an, dass Krieg war. In einem Vorgarten tropfte Nebelnässe von einem mächtigen Apfelbaum. An seinen Ästen hingen noch Früchte, rot und prall. Ein Kinderdreirad mit blauem Sattel und ein bunt gestreifter Ball lagen auf einem Rasen, der sich gegen den Winter wehrte.
    SA-Mann Griesinger, rot gebrüllt, doch immer noch gut bei Stimme, drängte die erschöpften Menschen, die er sich untertan gemacht hatte, zum schnellen Schritt. »Ihr sollt marschieren, ihr Itzigs, nicht beten«, höhnte er. »Beten hilft nicht mehr. In Deutschland sind die Züge pünktlich.«
    »Es soll nach Polen gehen«, murmelte ein alter Mann. »Das sagen alle.«
    »Ich hab gehört, nach Theresienstadt«, widersprach die Frau, die neben ihm lief. »Meine Tante haben sie auch dorthin gebracht. Sie hat uns ein Mal geschrieben.«
    »Theresienstadt ist nur für Privilegierte«, sagte der Mann, »das hat mir der Mann erzählt, der auf dem Friedhof arbeitet.«
    »Ich bin privilegiert. Mein seliger Mann hat im Krieg das Eiserne Kreuz Erster Klasse bekommen. Schwer verwundet worden ist er.«
    »Tote Ehepartner nutzen nichts.«
    »Keine Volksreden«, brüllte der Herrscher mit Peitsche. »Wir sind hier nicht in der Juddeschul. Hier spricht nur einer, und das bin ich. Verstanden?«
    In der Parterrewohnung vom Haus mit dem Apfelbaum wurde der Rollladen hochgezogen. Eine Frau mit einem großmaschigen Haarnetz, das ihr bis zur Stirn reichte, stieß das Fenster auf. Sie fächerte sich mit offenem Mund Luft zu, schaute sich um und verschwand in dem Moment, da sie die Kolonne erblickte, hinter einer Tüllgardine, kam jedoch sofort wieder zurück und lehnte sich dann so weit zum Fenster hinaus, wie es ihr massiger Körper zuließ. Seit die Deportation der Frankfurter Juden begonnen hatte, war die Frau am Fenster zur regelmäßigen Beobachterin des Grauens geworden. Zwar galt sie in ihrer Familie als gutmütig und sehr sensibel, doch wenn sie sah, wie die Menschen mit dem gelben Stern gedemütigt und gequält wurden, tat es ihr gut, genau hinzusehen. Trotzdem keuchte sie, als würde auch sie gehetzt werden, sie legte ihre Hand auf die linke Brust und schüttelte den Kopf.
    »Wo die nur alle herkommen in aller Herrgottsfrüh?«, wunderte sie sich. Der Spitz zu ihren Füßen, mit dem sie trotz der immer schlechter werdenden Versorgungslage ihr Leben teilte, bellte zwei Mal hintereinander.
    »Psst«, sagte die Frau. Sie zog ihr Haarnetz tiefer in die Stirn und schlurfte in ihren Filzpantoffeln zurück ins dunkle Wohnzimmer, kam mit einem Sofakissen aus weinrotem Samt zurück, schüttelte es auf, als wäre es ein Federbett, und legte es auf die Fensterbank. Gern hätte die Frau in Lauerstellung gewusst, wohin die Juden von der Großmarkthalle aus gebracht wurden. Von ihrer Nichte Luise, die dort arbeitete, hatte sie gehört, die Leute würden in Waggons geprügelt und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Allerdings bezweifelte die Tante, dass Luise, von der alle sagten, sie hätte eine blühende Fantasie, das wissen konnte. Was geschah wohl mit den Wohnungen, die leer wurden? »Wahrscheinlich sind die in bester Lage«, sagte die Frau zu ihrem Hund. Er wimmerte auf dem Sofa im Wohnzimmer, weil er es gewohnt war, mit der Frau im Fenster zu liegen.
    »Du bleibst, wo du bist«, befahl sie. »Das hier ist nichts für einen Hund.« Die Frau war zu sehr mit ihrer Nichte und mit den Juden in der Großmarkthalle beschäftigt, dass sie laut sprach. Erschrocken legte sie ihre Hand auf den Mund.
    Anna Dietz, die sich Schutz suchend an den Gartenzaun der unverdrossenen Späherin gedrückt hatte, hörte die Frau reden und erschrak so sehr, dass ihr schlecht wurde. Sie fühlte, während sie das Würgen in die Kehle zurückzudrängen versuchte, dass ihre Knie nachgaben. Stirn, Wangen und Kinn begannen zu gefrieren. Sie wagte kaum zu atmen, fürchtete, der Hund würde sie riechen, die Frau die Aufmerksamkeit auf sie lenken. Vor allem fürchtete sie um ihre Kraft, um ihren Mut und um ihr ungeborenes Kind.
    Anna, die uneheliche Tochter von Johann Isidor Sternberg, nach dem Tod ihrer Mutter aufgewachsen in seinem Haus in der Rothschildallee 9 und auch von seiner Frau Betsy
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