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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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Weggenossen, nachdem er den ersten Transport begleitet hatte, »fallen ja schon um, wenn man sie nur anpustet. Auch wenn einer seine Soldatenpflicht nicht mehr so gut erfüllen kann wie ein Mann mit gesunden Gliedern, hat er doch den moralischen Anspruch, dass seine Verdienste um die Sache geehrt werden.«
    Der SA-Mann hatte ausgerechnet am ersten Tag des Krieges die Disziplin vergessen, die er Führer und Vaterland schuldete; in seiner Euphorie, dass Deutschland endlich auf dem Kampffeld den Mut und die Kraft der Furchtlosen beweisen durfte, hatte er erst vier Flaschen Bier getrunken und danach eine halbe Flasche Heidelbeerschnaps, die er in die Wirtschaft mitgebracht hatte. Abends um zehn, in dem Moment, da er – aus voller Kehle die alten Kampflieder schmetternd – von der Brücke in den Main pinkeln wollte, war er sämtliche Treppen des Eisernen Stegs hinuntergestürzt. Beide Beine hatte der Siegesberauschte gebrochen und das Jochbein dazu. Nun war das rechte Bein kürzer als das linke, und bei jedem Wetterwechsel pochte es im Schädel.
    »Wird’s bald?«, schrie der Kampfesdurstige. »Ihr verlaustes Pack.« Er schubste ein etwa vierjähriges Mädchen, schlug mit der Peitsche auf den Boden und spuckte angewidert aus. Sein Speichel schäumte auf den Lippen. Er spürte einen gallenbitteren Geschmack im Mund und unmittelbar danach ein kaum zu unterdrückendes Bedürfnis, abermals eine Frau zusammenzutreten. »Diesmal eine junge«, schrie die Stimme des Grauens in den nebelschweren Tag.
    Er hieß Georg Maria Griesinger. Wenn er morgens in den Spiegel schaute, wich er seinem Blick nicht aus. Es machte ihn immer wieder aufs Neue stolz, dass er nach dem beschämenden Unfall überhaupt noch in der Lage war, seinen Mann zu stehen, und das wahrhaftig nicht schlechter als die glücklichen Leute mit zwei gesunden Beinen. »Dein Sohn braucht keine Front, um seine Soldatenpflicht zu tun«, pflegte Georg seiner Mutter klarzumachen, wenn sein Magen gut gefüllt war und sie wieder einmal von ihrem Onkel in Fischbach eine selbst gebrannte Flasche Kartoffelschnaps hatte ergattern können. »Es ist viel schwerer, zu Hause den Kampf um Deutschlands Zukunft zu führen als im Osten. Das kannst du mir glauben.«
    Die Mutter war nicht gewohnt, einem Mann zu widersprechen. Ihrem Jüngsten gab sie meistens aus Überzeugung recht. Nur im Stillen fragte sie sich, weshalb seine Brüder nicht die gleiche Chance bekommen hatten, sich auf sicherem Posten zu bewähren. Herbert, dem keiner widerstehen konnte, hatte es in Polen getroffen. Günther mit den guten Schulzeugnissen und der frisch bestandenen Prüfung als Malergeselle war in Frankreich gefallen. Nun dankte die Mutter jeden Abend und selbstverständlich sonntags in der Kirche, dass der Chirurg, der die gebrochenen Beine ihres Jüngsten versorgt hatte, sich nicht so bewährt hatte, wie man das von einem deutschen Arzt in einem deutschen Krankenhaus hätte erwarten können.
    Trotz seines schwerfälligen Ganges und seiner Asthmaanfälle, die ihn schon in der Jugend zu einem Außenseiter gemacht hatten, hatte Georg Griesinger die Körperkraft und die Stimmgewalt, die ein Mann brauchte, um mit Juden umzugehen. »Parasiten und Volksfeinde«, pflegte er der Mutter zu erläutern, »wittere ich wie ein Hund den Hasen. Einen Juden kann ich kilometerweit riechen.«
    »Das hast du schon als Kind gekonnt«, bestätigte die Mutter, »ich hab mich immer gewundert.«
    Die Vorgesetzten waren sich einig, dass auf Georg Maria Griesinger nach dem Unfall, dessen genaue Umstände nie bekannt wurden, ebenso Verlass war wie zuvor. Für Griesinger legten auch die Kumpel die Hand ins Feuer. Ein jeder von ihnen war bereit zu schwören, dass der »Schorschi« keine weiche Stelle hatte. »Und schon gar nicht, wie so mancher, der sich an der Heimatfront herumdrückt und vom Heldentum schwadroniert wie Münchhausen nach dem fünften Schnaps, hat er eine weiche Birne.«
    Dennoch war Griesinger an manchen Tagen, vor allem, wenn ein Gewitter in der Luft lag und die alten Narben brannten, als wären sie frische Wunden, nicht mehr der Mann, der sich das wirklich Große zutraute. In der Dunkelheit konnte er nicht mehr gut sehen, und neuerdings schienen die Bäume bereits in der Dämmerung zu schwanken. Auch dichtes Gebüsch narrte seine Sinne, und manchmal hörte er in der Stille Flugzeuge, die dann nie am Himmel erschienen. In seinen nächtlichen Albträumen war die Welt noch ungebärdiger. Da sah Griesinger Wälder aus
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