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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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drückte die Tochter seines Herzens besonders lange an sich.
    Am Tag der Entscheidung fiel Anna auf, wie viel Mühe Betsy sich gab, mit ihrem Mann Schritt zu halten und Fanny ständig zu beobachten. Ihr war sofort klar, dass Betsy Bescheid wusste. Ein paarmal schaute sich Betsy um. Sie sagte etwas zu ihrem Mann; Anna schien es, als hätte Johann Isidor seiner Frau zugenickt. Die ging zu Fanny und fasste sie an die Schulter. Fanny, dürr, bleich und schreckensstarr, hatte den Abstand zu ihrer Mutter und dem Bruder immer größer werden lassen. Die Großmutter flüsterte dem Kind etwas zu, ohne sich hinabzubeugen. So unauffällig, dass die SA-Männer nichts bemerkten, schob sie Fanny zur Außenseite der Kolonne hin. Es war das erste Mal, dass Anna die Kleine deutlich sah. Fanny war am Ende ihrer Kraft. Die Zehnjährige stolperte in kurzen Abständen, setzte die Stofftasche mit ihren Habseligkeiten immer wieder ab, schwankte, streckte ihre Arme ins Leere, richtete sich wieder auf und lief doch weiter.
    Eine Frau, die die Großmarkthalle schon erreicht hatte, schrie gellend »Feuer« und »Hilfe«. Stöhnend fiel sie um. Noch im Liegen umklammerte sie ihren Koffer mit dem Aufkleber »Europa Hotel, Bad Gastein«. Die, die nicht fallen durften, gerieten aus dem Tritt. Zwei bewaffnete SA-Männer hetzten schreiend nach vorn. SA-Mann Griesinger brüllte so laut, dass sich seine Stimme überschlug. Er trat nach einem Mann, den der »Feuer«-Schrei gelähmt hatte. Ein Junge von etwa sechzehn Jahren bückte sich über die gestürzte Frau. Es war offensichtlich, dass sie Epileptikerin war und einen Anfall hatte.
    »Das würde dir so passen«, schrie Griesinger.
    In den Fenstern lungerten die Gaffer und wähnten, sie wären Menschen. Um gut sehen zu können, lief eine Frau auf das Haus mit dem Apfelbaum zu. Sie zeigte mit ihrem Finger auf die Verzweifelten und fragte sie im gemütlichen Hessisch, wohin ihre Reise ging. Die Frau mit dem weißen Spitz spuckte die Elenden aus ihrem Wohnzimmer an und brüllte »Pfui«. Ihr Hund bellte und wedelte mit dem Schwanz.
    Anna war nun ganz dicht an der Kolonne. Sie wurde noch gewahr, dass ihr schwerer Leib leicht wie der Körper eines jungen Mädchens wurde und dass ein Engel auf sie zuflog. Der Kopf war betäubt vom Willen, der sie trieb. Ihre Schritte waren lang und kraftvoll. Mit einer Hand, die vereiste und doch nicht zitterte, ging sie auf die Sternträgerin Fanny Feuereisen zu, für die der Eisenbahnwaggon in den Osten bereitstand. Anna Dietz, die in ihrem Leben nie ungehorsam gewesen war und der keiner je erklärt hatte, was Menschlichkeit und Herzenspflicht bedeuten, griff nach Fanny. »Schau dich nicht um«, flehte sie.
    In einer Seitenstraße, in der die Bewohner ihrem Sonntag entgegenschliefen, zerrte Anna dem schocksteifen Kind den Mantel vom Körper. Den Mantel mit dem gelben Stern, der Retterin und Gerettete dem Tod in die Arme getrieben hätte, stopfte sie in ihre Einkaufstasche. Sie hüllte Fanny in eine braune Strickjacke, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Hand in Hand und ohne ein Wort zu reden, gingen sie den Weg zurück, den sie gekommen waren.

2
BEDROHUNG UND ERLÖSUNG
    März bis April 1944
    »Schlimmer kann es weiß Gott nicht mehr kommen«, sagte die noch im fünften Kriegsjahr wohlgenährte Frau Schmand. Sie zeigte mit ihrer Stricknadel in Richtung Kellerdecke, zählte namentlich die Mitbewohner auf, die mit ihr zwischen Kartoffelkisten, Kohlen, Weckgläsern und ausrangierten Decken auf Schemeln, Küchenstühlen und Matratzen hockten, und betonte: »Schlimmer wahrhaftig nicht.« Allerdings lagen zwei Knäuel dunkelblauer Wolle in Frau Schmands Schoß, und die waren ein eindeutiger Hinweis dafür, dass sie mit einem Luftangriff von längerer Dauer rechnete. Um an so schöne Wolle in Vorkriegsqualität zu kommen, hatte sie einen Pullover ihres jüngsten Sohns auftrennen müssen. Hans-Dieter war vor zehn Monaten in Russland gefallen. Nun strickte Frau Schmand warme Socken für ihren Ältesten. Obwohl von Eberhardt, dem fleißigen und mitteilsamen Briefeschreiber, seit vier Monaten keine Nachricht mehr eingetroffen war, glaubte die Mutter ihn wohlauf an der Ostfront. Kleingläubigkeit wäre für sie Verrat an der deutschen Sache gewesen. Sie versäumte keine Gelegenheit, ihrem Lebensmotto zu dienen. In der NS-Frauenschaft und auch in der Gemeinschaft ihrer Kirchenschwestern, zu denen sie weiter Kontakt hielt, wenn auch einen sehr losen, galten ihr Optimismus und
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