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Dieses Buch gehört meiner Mutter

Dieses Buch gehört meiner Mutter

Titel: Dieses Buch gehört meiner Mutter
Autoren: Erich Hackl
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[7]  Am Hang des Predigtberges
    lag Sankt Leonhard.
    Am Fuß des Heidenberges
    lag Weitersfelden.
    Firling lag so dazwischen:
    vier Hügel dahin,
    fünf Hügel dorthin.
    Wer bis dreißig zählen konnte,
    hatte das ganze Dorf erfaßt:
    zwei Dutzend Höfe und Häusl,
    zwei Wirtshäuser,
    eine Schmiede,
    eine Kapelle,
    ein Feuerwehrhaus.
    Drumherum ein paar tausend Steine,
    verstreut über Weiden, Äcker und Wälder.
    Mittendrin allerlei zahmes Getier
    sowie Mannsbilder, Weiberleute und Kinder,
    erfüllt von Fleiß, Gehorsam, Gottesfurcht
    und einem großen Durst nach Geselligkeit.
    Immer in der Schwebe
    zwischen Argwohn und Leichtsinn.
    Zu erschöpft,
    sich die Gegenwart vorzustellen.
    Solche wie ich.
    [8]  Hafer und Roggen und jede Menge Erdäpfel.
    Dazu Rüben. Flachs. Mehr ließ der Boden nicht aus.
    Die Äpfel waren sauer, die Zwetschken fielen
    unreif vom Baum. Birnen, ja Birnen gediehen,
    aber sie waren klein und matschig und schwarz
    und hielten sich nur ein paar Wochen.
    Wir hatten als einzige einen Kirschbaum.
    Er stand in der Mulde neben dem Haus,
    ein wenig geschützt vor dem eisigen Wind.
    Um ihn durchzubringen, ging mein Vater
    in den Frostnächten hinaus, ein kleines Feuer
    anzuzünden, das rauchte weiß wie die Blüten.
    [9]  Das erste Fahrrad war aus Holz.
    Es hatte zwei Räder und keine Pedale.
    Mit dem Lenker ließ sich nicht lenken.
    Zum Aufsitzen brauchte ich keinen Stein.
    Die ersten Skier waren zwei Faßdauben.
    An die Spitzen waren Schnüre genagelt,
    zum Festhalten und zum Steuern.
    Der Skistock war noch nicht erfunden.
    Das erste Motorrad kurvte um die Kapelle,
    ehe es knatternd im Hohlweg verschwand.
    Es hinterließ eine Spur der Verwüstung:
    eine tote Henne, Federn, geschockte Gänse.
    Das erste Schiff schwamm auf der Donau.
    Ich sah es von Urfahr aus, auf die Entfernung
    kamen mir die Menschen an Deck winzig vor.
    »Zwergerl«, juchzte ich, »drei, vier Zwergerl!«
    Der erste Zeppelin war auch schon der letzte.
    Sein Rumpf glitzerte in der Wintersonne.
    Die Dietl, die uns beim Dreschen half, seufzte:
    »Was Schöneres werd ich nie mehr sehn.«
    [10]  Die Straße war schmal und steil und schlecht.
    Alle heiligen Zeiten kam ein Auto daher.
    Am Firlingberg versagten meistens die Bremsen.
    Einmal waren es Ausflügler aus der Stadt,
    der Fahrer mit Lederhaube und seine schöne Frau
    im offenen Verdeck.
    Das Auto überschlug sich
    und blieb im Graben liegen.
    Die Räder surrten noch eine Weile.
    Die Frau war tot, wir legten sie in die Stube,
    bis der Leichenbeschauer kam.
    Der Mann neben ihr jammerte zum Herzerbarmen
    um sein gebrochenes Bein.
    Die Buben schnitten aus den Reifen Radiergummis,
    die schmierten.
    [11]  Eine kleine Semmel kostete fünf Groschen.
    Eine Rippe Schokolade zehn Groschen.
    Vom Kirtag ein großer Sack Süßigkeiten
    mit Schaumrolle und Kokoskuppeln einen Schilling.
    Ich hatte es gut: meine Mutter gab mir jeden Tag
    eine halbe Semmel mit in die Schule.
    Die Rauh Hedwig, die so schön singen konnte,
    hatte nie mehr als ein hartes Scherzel in der Tasche.
    Oft war es verschimmelt.
    Die Fessl-Kinder legten die Brotscheiben übereinander
    und wehe, die des andern stand vor.
    Beim Pum hatten sie achtzehn Kinder und eine große Not.
    Auf ihrem Christbaum hingen nur Erdäpfelspeigen.
    [12]  Jedes Jahr kamen sie zweimal ins Dorf:
    Anfang Mai, wenn in den Gräben der letzte Schnee
    geschmolzen war, Mitte September,
    bevor es kalt aus dem Böhmischen wehte.
    Immer war ich allein zu Hause. Es hieß,
    sie stehlen Kinder. So schnell konnte ich gar nicht
    das Hoftor verriegeln, das Haustor zusperren,
    die Geschäftstür verrammeln, wie mein Herz klopfte.
    Mein Vater lachte. Meine Mutter warnte ihn
    schon gar nicht mehr. Jedesmal ließ er sich
    auf den Roßhandel ein. Jedesmal fing der Hengst,
    feurig und stolz, nach ein paar Tagen zu lahmen an.
    Die Frauen trugen bunte Röcke und Kopftücher
    wie wir im Sommer auf dem Feld: im Nacken verknotet.
    Sie rupften die Hühner im Handumdrehen.
    Sie stehlen wie die Raben, sagte man. Uns ging nie was ab.
    Im Gegenteil, wenn sie sangen, abends am Feuer
    in der Senke neben dem Haus, wo der Kirschbaum stand,
    flog uns was zu, das wir nicht benennen konnten.
    Eine Wonne, ein Schaudern, süß und bitter zugleich.
    Unsere Schuld war es nicht, daß sie mit einemal ausblieben.
    Unsere Schuld war, daß wir nicht fragten, wo sie geblieben waren.
    [13]  Unser Nachbar hatte vier Töchter,
    eine tüchtiger als die andere,
    dazu blitzsauber und
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