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Heimat Mars: Roman (German Edition)

Heimat Mars: Roman (German Edition)

Titel: Heimat Mars: Roman (German Edition)
Autoren: Greg Bear
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gezeichnete, schmale und ausdrucksvolle Augenbrauen. Gretyl war zwar nicht ganz so attraktiv, kam aber aus dem gleichen Stall: Sie war eine schlanke junge Frau mit großen, vorwurfsvollen Augen und strohblondem Haar, das zu einem strengen Knoten aufgesteckt war.
    Sean stellte sich auf eine alte Kiste und blickte auf uns herab. Er machte uns zu realen Menschen mit einer realen Mission. »Wir alle wissen, weshalb wir hier sind«, sagte er. Mit ernster Miene, glänzenden und mitfühlenden Augen hob er die Hände, streckte die langen, schwieligen Finger bis zur Polyesterkuppel und verkündete: »Die Alten verraten uns. Erfahrung bringt Korruption mit sich. Es ist an der Zeit, auf dem Mars ein moralisches Gleichgewicht herzustellen. Wir müssen ihnen zeigen, was es heißt, als einzelner Mensch für etwas einzutreten, und was unsere Rechte uns bedeuten. Freunde, sie haben uns vergessen. Wie sie auch ihre vertraglich festgelegten Pflichten vergessen haben. Wahre Marsianer vergessen solche Dinge nicht, sie können sie ebensowenig vergessen, wie sie das Atmen vergessen oder übersehen, ein Leck abzudichten. Was sollen wir also tun? Was können wir tun? Was müssen wir tun?«
    » Sie daran erinnern «, riefen viele von uns. » Sie umbringen «, meinten einige. »Ihnen sagen, was wir …«, wollte ich einwerfen, hatte aber keine Gelegenheit, meinen Satz zu Ende zu bringen. In dem Gebrüll ging meine Stimme unter.
    Sean legte seinen Plan dar, wir hörten begeistert zu. Er schürte unsere Wut und Empörung, noch nie war ich so aufgeregt gewesen. Wir, die wir uns die Frische der Jugend bewahrt hatten und gegen die Korruption wehrten, würden die Mars-Universität auf dem Landweg erstürmen und unsere vertraglichen Rechte durchsetzen. Wir waren im Recht, unsere Sache war gerecht.
    Sean ordnete an, dass wir alle unsere Haut versiegeln sollten, die Schutzmittel wurden aus großen Plastikfässern gepumpt. Nackt tanzten wir unter den Duschen, aus denen die Schutzmittel spritzten. Wir lachten, deuteten mit den Fingern aufeinander und kreischten angesichts der jähen Kälte. Wir waren zwar leicht verlegen, aber amüsierten uns trotzdem königlich. Später schlüpften wir wieder in unsere Sachen, unter denen das elastische, eng anliegende Nanomer klebte. Die Versiegelung der Haut war für Notfälle mit dem Druckausgleich gedacht und zielte ganz bestimmt nicht auf unser Wohlbefinden ab. Die Benutzung der Toilette gestaltete sich äußerst umständlich. Wenn die Haut versiegelt ist, braucht eine Frau etwa vier Minuten, ein Mann zwei Minuten zum Pinkeln. Noch komplizierter wird’s beim festen Stuhlgang.
    Für den Fall, dass wir bei Tageslicht herauskrochen, überzogen wir unseren Hautschutz zur Tarnung mit rotem Ocker. Wir sahen aus wie die Teufel in Cartoons.
    Am Ende des dritten Tages waren wir müde, hungrig, dreckig und ungeduldig. Wir rückten in der unter Druck stehenden Polyesterkuppel zusammen – neunzig Personen in einem Raum, der für dreißig gedacht war. Unser rostiges Wasser zapften wir aus einer alten Zisterne. Wir hatten wenig oder gar nichts gegessen und machten Gymnastik, um gegen die Kälte anzukämpfen.
    Auf dem Weg zur Essensausgabe oder zur Toilette kam ich ein paar Mal an einem blassen, nachdenklichen Burschen vorbei. Er war schlank, hatte eine Adlernase, dunkles Haar, große, fragende Augen, ein schiefes Grinsen und verhielt sich zurückhaltend und auf nervöse Weise albern. Irgendwie wirkte er nicht so aufgebracht und sicher wie wir übrigen. Schon sein Anblick brachte mich in Rage. Ich ging ihm nach, beobachtete sein merkwürdiges Gehabe, notierte im Geiste seine Minuspunkte – die Liste wurde immer länger. Ich war nicht gerade in bester Stimmung und musste ein bisschen Dampf ablassen. Also widmete ich mich seiner Erziehung.
    Falls er meine Observation überhaupt bemerkt hatte, versuchte er, am Anfang jedenfalls, mir aus dem Weg zu gehen. Unter der alten Polyesterkuppel schlich er von Grüppchen zu Grüppchen und gab Belanglosigkeiten von sich. Alle waren gereizt. Seine Gesprächsversuche verliefen im Sand. Schließlich stand er vor einer elektrischen Wandheizung Schlange und wartete, bis er an der Reihe war, sich in dem warmen, trockenen Luftstrom aufzuwärmen.
    Ich stand hinter ihm. Er sah mich an, lächelte höflich und hockte sich mit dem Rücken zur Wand auf den Boden. Ich ließ mich neben ihm nieder. Er verschränkte die Hände über dem Knie, kniff die Lippen zusammen und vermied es, mich anzusehen.
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