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Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer
Autoren: Bruce Sterling
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raffinierte Gesprächswendung überforderte das beschränkte Sprachvermögen des Hundes, daher wechselte er mit der unerschütterlichen Wendigkeit seiner Art einfach das Thema. »Ich lebe bei Martin Warshaw. Er ist sehr gut zu mir. Er füttert mich gut. Martin riecht auch gut. Aber ... nicht mehr wie früher. Nicht wie ...« Der Hund wirkte gequält. »Jetzt nicht mehr…«
    »Hat Martin dich beauftragt, mir zu folgen?«
    Der Hund dachte nach. »Er spricht von dir. Er will dich sehen. Du solltest ihn besuchen. Er ist unglücklich.« Der Hund beschnüffelte das Pflaster, dann sah er erwartungsvoll zu Mia auf. »Hast du einen Leckerbissen?«
    »Ich habe keinen Leckerbissen dabei, Plato.«
    »Das ist schade«, meinte Plato.
    »Wie geht es Martin? Wie fühlt er sich?«
    In den behaarten Augenwinkeln des Hundes zeigte sich eine unbestimmte Angst. Es war schon eigenartig, wie das Gesicht eines Hundes an Ausdrucksfähigkeit gewann, wenn er erst einmal Sprechen gelernt hatte. »Nein«, sagte zögernd der Hund. »Martin riecht unglücklich. Zu Hause ist es nicht mehr schön. Martin macht mich sehr traurig.« Er begann zu heulen.
    Die Bürger von San Francisco waren sehr tolerant, zivilisiert und kosmopolitisch. Ganz offensichtlich missbilligten es die Passanten, dass Mia einen Hund in der Öffentlichkeit zum Weinen gebracht hatte.
    »Schon gut«, sagte Mia beschwichtigend. »Beruhige dich. Ich begleite dich. Wir gehen gleich zu Martin.«
    Der Hund winselte, zu durcheinander, um ein Wort herauszubringen.
    »Bring mich zu Martin Warshaw«, sagte Mia.
    »Ja, gern«, sagte der Hund, dessen Miene sich wieder aufgehellt hatte. In sein Universum war wieder Ordnung eingekehrt. »Das kann ich. Das ist leicht.«
    Er führte sie freudig umherhüpfend zu einer Straßenbahn. Der Hund zahlte für sie beide, und an der dritten Haltestelle stiegen sie aus. Martin Warshaw hatte sich dafür entschieden, nördlich der Market Street in Nob Hill zu wohnen, in einem der in den 2060ern erbauten erdbebensicheren Hochhäuser, einem polychromen Wolkenkratzer. Den aufdringlichen Schönheitsnormen jener Zeit entsprechend war die Fassade bunt gekachelt und mit ausladenden Erkern und Balkonen durchsetzt.
    Im Innern herrschte betäubende Stille. In der Lobby wuchs ein Wäldchen durchdringend duftender Orangen- und Avocadobäume in bunten Zwei-Tonnen-Kübeln. In den Bäumen hüpften Scharen zwitschernder kleiner Finken umher.
    Mia folgte ihrer Hundeeskorte in einen graffitiverkrusteten Aufzug. Im zehnten Stock traten sie auf einen Gang mit Kopfsteinpflaster hinaus. Die Innenbeleuchtung des Gebäudes imitierte hyperrealistisch den Sonnenschein Nordkaliforniens. Mia bahnte sich einen Weg zwischen den Kübeln mit großen Jakarandabäumen hindurch und kaufte an einem Automaten vakuumverpacktes Hundefutter. Der Hund nahm das knochenförmige Gebilde mit höflicher Begeisterung entgegen.
    Duftende Glyzinen rankten an der Außenwand von Martins Wohnung empor. Auf eine Berührung der Hundepfote hin glitt die schwere Tür beiseite.
    »Mia Ziemann ist da!«, verkündete der Hund lautstark ins Leere hinein. Das Wohnzimmer wies die klinische Sauberkeit eines altmodischen Hotels auf: Kübelpalmen, ein Medienschrank aus Mahagoni, große Messingstehlampen, ein Teaktisch mit Glasplatte, darauf makellose Glassachen und luftdicht verschlossene Gläser mit Nussmischungen. Zwei große Ratten mit Steuerhalsbändern fraßen Laborfutter aus einer Schüssel auf dem Tisch.
    »Gibst du mir deinen Mantel?«, fragte der Hund.
    Mia legte den braunen Gabardinemantel ab und reichte ihn dem Hund. Darunter trug sie ihre gewöhnliche Einkaufskleidung: maßgeschneiderte Hosen und eine langärmlige Bluse. Sie war leger gekleidet; das ließ sich nicht ändern. Der Hund machte sich spielerisch an einem Garderobenständer zu schaffen.
    Mia hängte ihre Handtasche auf. »Wo ist Martin?«
    Der Hund führte sie ins Schlafzimmer. Auf einem schmalen Bett lag ein Sterbender in einem gemusterten japanischen Pyjama. Entweder er schlief, oder er war bewusstlos; sein faltiges Gesicht war erschlafft, sein dünnes, lebloses Haar zerzaust.
    Als sie ihn erblickte, hätte Mia beinahe kehrtgemacht und wäre fortgelaufen. Ein so starkes, elementares Gefühl wie den Drang, aus dem Zimmer, aus dem Gebäude, aus der Stadt zu flüchten, hatte sie seit Jahren nicht mehr empfunden.
    Mia hielt stand. Angesichts der unerbittlichen Realität des Todes wurden all der eingeholte Rat und alle Vorbereitung hinfällig. Sie
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