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Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer
Autoren: Bruce Sterling
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Intimität und Bitterkeit. »Du siehst doch, wie es um mich steht, nicht wahr? Siebzig Jahre ist es her - für mich sind sie wie ein Tag. Ich habe mich kein bisschen verändert. Und du dich auch nicht.«
    »Martin, ich will aufrichtig zu dir sein. Es ist bloß ...« Sie blickte zum Hund hinüber, der friedlich in der Ecke lag, den schmalen Kopf auf die überkreuzten Vorderpfoten gebettet.
    Dann auf einmal dämmerte ihr nach und nach die erschreckende Wahrheit. »Ich habe keine Haustiere. Ich hatte nie welche. Mein Leben hat sich geändert. Ich lebe allein. Ich hatte mal eine Familie, einen Ehemann und eine Tochter, aber sie sind aus meinem Leben verschwunden, und ich rede nicht mehr mit ihnen. Ich habe Karriere gemacht, Martin. Ich habe einen guten Job bei der Behörde für medizinische Forschung. Da liegt meine Verantwortlichkeit, damit beschäftige ich mich. Ich betrachte Bildschirme, befasse mich mit Ökonomie und Bewilligungsverfahren und bewerte die Ergebnisse der Forschungsprogramme. Ich bin ein Funktionär.«
    Sie atmete stockend ein. »Ich gehe in Parks spazieren, sehe mir allabendlich die Nachrichten an und nehme jedes Mal an der Wahl teil. Hin und wieder schaue ich mir einen alten Film an. Aber das ist auch schon alles, das ist mein Leben. Ich bin die Art Mensch, die du nicht verstehst und nie verstanden hast.« Sie weinte jetzt unverhohlen.
    Er betrachtete sie voller Mitgefühl. »Ein Hund als Gefährte würde dir bestimmt gut tun. Ich weiß, dass er mir gut getan hat. Wir schulden den Tieren nämlich etwas, weißt du. Wir sind dadurch Menschen geworden, dass wir auf die Rücken der Tiere geklettert sind. Wir sind ihnen verpflichtet.«
    »Ein Tier kann mir nicht helfen. Ich brauche keine Bindungen.«
    »Nutze die Gelegenheit. Verändere ein wenig dein Leben. Hin und wieder muss man ein Risiko eingehen, Mia. Wenn du nichts riskierst, lebst du auch nicht.«
    »Nein, ich will nicht. Ich weiß, du meinst, es würde mir gut tun, aber du irrst dich. Ich kann nicht. Ich bin nicht die Art Mensch. Hör auf, mich zu drängen.«
    Er lachte. »Ich kann einfach nicht glauben, dass du das gesagt hast. Dieselben Worte hast du bei unserem letzten Streit benutzt  – das waren deine allerletzten Worte!« Er schüttelte den Kopf. »Also gut, also gut ... Ich habe schon immer zu viel von dir verlangt, nicht wahr? Es war dumm von mir, dich zu fragen. Ich stecke voller Pläne, lästig für andere Menschen, die immer noch ihr eigenes Leben leben. Du gehst nicht gern Risiken ein. Das weiß ich. Du warst immer vorsichtig, und du warst klüger und umsichtiger als ich. Pech für dich, dass wir uns jemals begegnet sind.«
    Leeres Schweigen hing zwischen ihnen in der Luft. Ein kleiner Vorgeschmack auf die Stille des Todes.
    Er raffte sich als erster auf. »Sag, dass du mir verzeihst.«
    »Ich verzeihe dir, Martin. Ich verzeihe dir alles. Es tut mir Leid, dass ich nicht die Richtige für dich war. Ich konnte deine Erwartungen nicht erfüllen. Ich konnte deinen Bedürfnissen nicht gerecht werden. Bitte verzeih mir, es war meine Schuld.«
    Er gab sich damit zufrieden. Sein gerötetes, bleiches Gesicht verriet ihr, dass er in einen Zustand der Verklärung eingetreten war, den er lange angestrebt hatte. Er hatte alles gesagt, was er hatte sagen wollen. Sein Leben war jetzt vorbei. Er hatte es zusammengeschnürt und weggepackt.
    »Geh deinen Weg, Schatz«, sagte er mit sanfter Stimme. »Der, der ich einmal war, hat die, die du einmal warst, aufrichtig geliebt. Versuche nicht, mich zu vergessen.«
    Der Hund stand nicht auf, um sie zur Tür zu geleiten. Benommen nahm sie Handtasche und Mantel vom Haken und verließ Martins Wohnung. Sie schritt durch die lebensvolle
    Sommerhelle der Gänge. Sie fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten, sie trat in die herbstliche Kälte hinaus. Sie hüllte sich wieder in das dünne, aber sehr reale Gewebe ihres kleinen, aber sehr realen Lebens. Sie nahm das erste Taxi, das sie sah, und fuhr nach Hause.
     
    Mercedes war da und machte gerade das Bad sauber. Mercedes ging mit dem Mopp und den Reinigungsutensilien ins Vorderzimmer. Mercedes trug die adrette Uniform des Sozialdienstes, ein babyblaues Jackett mit roten Epauletten, Freizeithose und Schuhe mit diskreten Schaumgummisohlen. Mercedes hatte auf ihrer Runde fünfzehn ältere Frauen zu versorgen und kam zweimal wöchentlich zum Saubermachen vorbei, meistens in Mias Abwesenheit. Mercedes bezeichnete ihre Tätigkeit als ›Hausarbeit‹, weil sie diese
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