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Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer
Autoren: Bruce Sterling
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Charakterisierung den Bezeichnungen ›Sozialarbeiterin‹, ›Gesundheitsinspektorin‹ oder Polizeispitzel vorzog.
    »Was ist denn mit Ihnen?«, fragte Mercedes überrascht und stellte den Mopp und den Eimer mit dem Reinigungsgel ab. »Ich dachte, Sie wären in der Arbeit.«
    »Ich hatte ein schlimmes Erlebnis. Heute stirbt ein Freund von mir.«
    Mercedes schlüpfte sogleich in die Rolle professioneller Anteilnahme. Sie nahm Mia den Mantel ab. »Setzen Sie sich, Mia. Ich bereite Ihnen einen Aufguss.«
    »Ich will keinen Aufguss«, sagte Mia erschöpft und setzte sich an den lädierten Küchentisch aus lackierter Pappe. »Er wollte, dass ich ein Mnemo nehme. Die Wirkung hält noch immer an, es ist fürchterlich.«
    »Welche Sorte?«, fragte Mercedes, nahm das Haarnetz ab und steckte es ins Jackett.
    »Encephalokryllin, zweihundertfünfzig Milligramm.«
    »Ach, das ist doch gar nichts.« Mercedes lockerte sich das dunkle Haar. »Trinken Sie einen Aufguss.«
    »Ich nehme lieber ein Mineralwasser.«
    Mercedes rollte Mias Tinkturenset an den Tisch und setzte sich auf einen Küchenschemel. Sie maß einen halben Liter destilliertes Wasser ab, wählte methodisch Mineraltabletten aus und zerdrückte sie. Mias Tinkturenset war das bei weitem teuerste Inventarstück der Küche. Mia betrachtete sich nicht als besitzgierig oder materialistisch, aber bei den Aufgüssen machte sie eine Ausnahme. Außerdem legte sie Wert auf ordentliche Kleidung. Des Weiteren machte sie gewisse Ausnahmen bei den Kartonverpackungen von Videospielen und CD-ROMs des zwanzigsten Jahrhunderts. Mia hatte eine kleine Schwäche für alte Verpackungen.
    »Ich glaube, ich würde gern drüber reden«, sagte Mia. »Wenn ich mit niemandem drüber rede, kann ich heute Nacht nicht schlafen. In drei Tagen muss ich zur Untersuchung, und wenn ich heute nicht schlafe, beeinflusst das die Ergebnisse.«
    Mercedes blickte freundlich zu ihr auf. »Sie können mit mir reden! Erzählen Sie mir nur davon.«
    »Müssen Sie das in Ihr Dossier aufnehmen?«
    Mercedes wirkte verletzt. »Natürlich muss ich das ins Dossier aufnehmen. Es wäre unehrlich von mir, wenn ich meine Dossiers nicht auf dem neuesten Stand hielte.« Mit einem leisen Zischen leitete sie einen Strom von Gasblasen in das Mineralwasser ein. »Mia, Sie kennen mich jetzt seit fünfzehn Jahren. Sie können mir vertrauen. Sozialdienstler haben es gern, wenn ihre Klienten mit ihnen reden. Dafür sind wir schließlich da.«
    Mia beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Vor siebzig Jahren war ich mit dem Mann befreundet«, sagte sie. »Damals war er mein Geliebter. Heute hat er mir gesagt, wir hätten uns nicht verändert, aber das stimmt natürlich nicht. Wir haben uns bis zur Unkenntlichkeit verändert. Er hat sich zugrunde gerichtet. Und ich - vor siebzig Jahren war ich eine junge Frau. Ich war ein Mädchen, sein Mädchen. Jetzt bin ich kein Mädchen mehr. Jetzt bin ich jemand, der einmal eine Frau war.«
    »Das ist eine seltsame Formulierung.«
    »Es ist die Wahrheit. Ich bin nicht seine Frau. Ich bin schon lange niemandes Frau mehr. Ich hatte keine Liebhaber. Ich liebe niemanden. Ich sorge mich um niemanden. Ich küsse niemanden, ich umarme niemanden, ich muntere niemanden auf. Ich habe keine Familie. Ich habe keine Hitzewallungen, ich habe keine Regel. Ich bin ein postsexueller Mensch, eine postfrauliche Person. Ich bin ein altes Weib. Ich bin ein Techno-Weib des späten zwanzigsten Jahrhunderts.«
    »Auf mich wirken Sie wie eine Frau.«
    »Ich kleide mich wie eine Frau. Das ist alles berechnet und gewollt.«
    »Ich weiß, was Sie meinen«, räumte Mercedes ein. »Ich bin fünfundsechzig. Das meiste hab ich hinter mir. Allzu sehr bedaure ich’s nicht. Das Leben einer Frau - mit allem, was dazugehört - möchte man keinem Freund wünschen.«
    »Es war sehr anstrengend«, sagte Mia. »Er war sehr höflich, aber allein schon die Nähe zu ihm hat mich erschöpft. Am schlimmsten dabei ist, dass es keinen klaren Bruch gibt zwischen mir und meinem früheren Leben. Meinem romantischen Leben, meinem Geschlechtsleben. Ich habe mich daran erinnert, wie erregend es war. Wie schmeichelhaft. Von einem großen, forschen, hartnäckigen Jungen umworben zu werden. Wie es sich anfühlte, als ich mich ihm ergab. Das Mnemo hat alles noch viel schlimmer gemacht.«
    »Die meisten Leute würden sagen, dass klare Brüche schlecht für einen sind. Dass man sich mit diesem Aspekt des früheren Lebens arrangieren und
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