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Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer
Autoren: Bruce Sterling
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ihn integrieren sollte, damit man seinen Frieden damit machen und ihn überwinden kann.«
    Therapeutische Vorschläge irritierten Mia in direktem Verhältnis zu dem Takt, mit dem sie vorgebracht wurden. »Heute war ich gezwungen, mein früheres Leben zu bewältigen. Es hat mich kein bisschen glücklicher gemacht.«
    »Tut es Ihnen Leid, dass er stirbt? Trauern Sie um ihn?«
    »Ein wenig Leid tut es mir schon.« Mia nippte am Mineralwasser. »Von Trauer würde ich nicht sprechen. Dafür ist das Gefühl zu flach.« Das Wasser tat ihr gut. Einfache Dinge bereiteten ihr am meisten Freude. »Ich habe heute geweint. Das hat mir überhaupt nicht gut getan. Ich habe seit fünf Jahren nicht mehr geweint.« Sie berührte ihre verquollenen Augen. »Ich habe das Gefühl, die Membran wäre beschädigt.«
    »Hat er Ihnen etwas hinterlassen?«
    »Nein«, log Mia gewandt.
    »Irgendeine Hinterlassenschaft gibt es immer.« Mercedes ließ nicht locker.
    Mia zögerte. »Es gab eine, aber ich habe sie abgelehnt. Er hat einen postcaninen Hund.«
    »Ich hab’s gewusst«, sagte Mercedes. »Entweder das Haustier oder das Haus. Wenn sie jung sterben, machen sie sich vielleicht Sorgen um ihre Kinder. Niemand lädt einen an sein Sterbebett ein, wenn er nicht will, dass man irgendetwas für ihn in Ordnung bringt.«
    »Vielleicht möchten Sie jetzt Ordnung machen, Mercedes.«
    Mercedes zuckte die Achseln. »Ich räume auf. Ordnung ist mein Leben.« Mercedes war stets sehr geduldig. »Aber ich merke, dass Sie noch etwas anderes auf dem Herzen haben. Was ist das?«
    »Es ist nichts, wirklich.«
    »Sie wollen es mir bloß noch nicht sagen, Mia. Sie können es mir auch gleich sagen. Solange Sie noch in der Stimmung sind.«
    Mia starrte sie an. »Sie brauchen mich nicht zu löchern. Mit mir ist alles in Ordnung. Ich hatte einen Schock, aber ich werde schon keine Dummheiten machen.«
    »Sie sollten so etwas nicht sagen, Mia. Die Situation ist sehr eigenartig. Die Welt ist sehr eigenartig. Sie leben ganz allein und haben keine Freunde, die Ihnen raten oder Sie aufmuntern könnten. Abgesehen von Ihrer Arbeit üben Sie keine soziale Rolle aus. Sie könnten leicht aus dem Gleichgewicht geraten.«
    »Haben Sie schon einmal erlebt, dass ich aus dem Gleichgewicht geraten wäre?«
    »Mia, Sie sind klüger als ich, älter und wesentlich reicher, aber Sie sind nicht der einzige Mensch in dieser Lage. Ich kenne eine Menge Leute wie Sie. Menschen wie Sie sind gefährdet.«
    Mercedes schwenkte ihren blauuniformierten Arm durch die Wohnung. »Das, was Sie seit all den Jahren als Ihr Leben bezeichnen, ist nicht die Normalität. Es bedeutet auch keine
    Sicherheit. Es ist bloße Routine. Routine ist etwas anderes als Normalität. Das, was man als Normalität bezeichnet, ist Ihnen nicht gestattet. Für eine vierundneunzigjährige posthumane Frau gibt es keine wirkliche Normalität. Die Lebensverlängerung ist nichts Natürliches, sie wird auch niemals natürlich sein, und man wird sie niemals zu etwas Natürlichem machen können. Das ist Ihre Realität. Und auch meine. Und deshalb schickt mich die Politas zweimal wöchentlich bei Ihnen vorbei. Damit ich die Augen offen halte und aufräume und Ihnen zuhöre.«
    Mia schwieg.
    »Nur zu, machen Sie nur weiter«, sagte Mercedes. »Es tut mir wirklich Leid, dass Sie heute einen schweren Tag hatten. Der Tod eines Freundes kann uns schwerer treffen, als wir glauben. Selbst stumpfe Menschen können die gleiche Routine nicht auf Dauer durchhalten, und Sie sind kein stumpfer Mensch. Sie sind bloß sehr zurückhaltend und auf eine altmodische Privatheit bedacht, die heutzutage eigentlich niemand mehr braucht.«
    »Ich werde drüber nachdenken.«
    Mercedes musterte sie ernst. Das Schweigen dehnte sich. Mercedes ließ sich nicht täuschen. Für sie gab es keine Heldinnen.
    »Übrigens«, sagte Mercedes schließlich, »in Ihrem Bad sind wieder Pilze aufgetaucht. Wo sind Sie gewesen?«
    »Ich war spazieren«, sagte Mia. »Ich habe mich einfach treiben lassen. Ich habe mir die Straßen nicht gemerkt.«
    »Bitte denken Sie daran, Ihre Schuhe eine Zeit lang vor der Tür zu lassen, okay? Und duschen Sie nicht zu lange. Die Coccidien sind höllisch gefährlich.«
    »Ist gut. Ich werde Ihren Rat beherzigen.«
    »Ich muss jetzt gehen«, sagte Mercedes und erhob sich. »Ich habe noch Termine. Aber rufen Sie mich an, wenn Sie irgendetwas brauchen. Rufen Sie mich jederzeit an. Scheuen Sie sich nicht, mich anzurufen. Ich mag es, angerufen zu
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