Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer
Autoren: Bruce Sterling
Vom Netzwerk:
locker. »Es war richtig von dir, mit mir Schluss zu machen. Erst später habe ich begriffen, dass es gar nicht um Europa ging oder darum, unser Leben zu verändern. Ich wollte bloß als Sieger aus der Auseinandersetzung hervorgehen. Ich wollte dich zu einem anderen Kontinent mitnehmen und dich zwingen, mein Leben zu teilen.« Er lachte. »Ich habe mich nicht verändert. Ich habe nie dazugelernt. Mit zwanzig Jahren war damit Schluss. Vielleicht schon mit fünf!«
    Mia rieb sich die Augen. »Du hättest mir mehr Zeit lassen sollen, mich darauf vorzubereiten, Martin.«
    »Tut mir Leid. Ich habe keine Zeit mehr. Von allen anderen habe ich mich bereits verabschiedet. Dir ins Gesicht zu sehen, fiel mir immer am schwersten.« Er holte ein Papiertaschentuch aus einer Bettschublade hervor und reichte es ihr.
    Sie tupfte sich die Augen ab, und er lehnte sich zurück, dellte mit seinen Schultern das Kissen aus. Der Pyjama öffnete sich am Hals, sodass sie das Blutfiltriernetz auf seiner Brust erkennen konnte. »Tut mir Leid, dass ich besser vorbereitet bin als du, Mia. Das war nicht fair von mir; aber im Herzen bin ich ein Dramatiker. Es tut mir Leid, wenn ich dich aufgeregt habe. Wenn du möchtest, kannst du jetzt gehen. Es hat mir sehr gut getan, dich zu sehen.«
    »Ich bin jetzt alt, Martin.« Sie reckte das Kinn. »Ich bin nicht mehr die junge Frau auf dem Foto, ganz gleich, wie gut oder wie schlecht wir uns an sie erinnern mögen. Mach nur weiter wie geplant, ich werde schon nicht gehen. Ich war noch nie ein schroffer Mensch.«
    »Ich beabsichtige, heute Abend zu sterben.«
    »Ich verstehe. Jetzt schon?«
    »Ja. In einem zivilisierten, geordneten Rahmen, gefasst.«
    Mia nickte sachlich. »Ich respektiere und bewundere deine Entscheidung. Ich habe auch schon häufiger gedacht, dass ich auf die gleiche Art sterben will.«
    Er entspannte sich. »Es ist nett von dir, dass du nicht mit mir streitest. Dass du mir meinem Abgang nicht verdirbst.«
    »Aber nein. Nein, das würde ich niemals tun.« Sie beugte sich vor und berührte seinen kalten Handrücken. »Brauchst du etwas?«
    »Es gibt noch ein paar Dinge zu regeln, verstehst du.«
    »Ja, sicher.«
    »Erbstücke. Hinterlassenschaften.« Er deutete mit sicherer Geste ins Leere. »Ich habe eine Hinterlassenschaft für dich, Mia  – etwas, das, wie ich glaube, passend für dich ist. Und zwar meinen Erinnerungspalast.« Eine Burg, aus virtuellem Sand erbaut. »Ich möchte, dass du meinen Palast in Besitz nimmst. Er kann dir eine Zuflucht sein, solltest du mal eine brauchen. Er ist anpassungsfähig und vielseitig. Er ist alt, aber stabil. Paläste machen manchmal eine Menge Ärger, meiner aber wird keine Anforderungen stellen. Ein guter Ort. Ich bin sehr diskret damit verfahren. Jetzt habe ich ihn ausgeräumt - mit Ausnahme einiger Dinge, die zu löschen ich nicht über mich gebracht habe, weil sie mir sehr viel bedeuten. Vielleicht auch dir. Erinnerungen.«
    »Wozu brauchtest du einen so großen Palast?«
    »Das ist eine lange Geschichte.«
    Mia nickte zustimmend und wartete.
    »Ich nehme an, es ist deshalb eine lange Geschichte, weil ich lange gelebt habe. Mich hat’s in den Sechzigern erwischt, weißt du. Die großen Netzinvestitionen, betrügerische Finanzgeschäfte.« Offenbar genoss er es, ihr zu beichten. Er stand ganz unter dem Einfluss des Mnemos. »Damals habe ich schon gar nicht mehr Regie geführt, sondern mich mehr um die Produktionsleitung gekümmert. In den juristischen Wirren habe ich viel Geld verloren, das ich beiseite gelegt hatte. Ich wollte nicht noch einmal hereinfallen, daher ergriff ich nach den Sechzigern ein paar einschneidende Maßnahmen. Hab mir einen richtigen Palast gebaut, unerreichbar für Steuereintreiber. Hab ihn seitdem gut gepflegt. Ein äußerst nützlicher Ort. Jetzt aber kann er mir nicht mehr helfen. Die Regierung will mir bei Leber und Thymus keine Vorrechte einräumen. Und was die amyloide Degeneration angeht, da ist die Prognose eindeutig.«
    Er runzelte die Stirn. »Ich kann es nicht ausstehen, wenn jemand die Spielregeln zu genau einhält, verstehst du? Es hat etwas Erschreckendes, wenn es zu gerecht zugeht in der Welt ... Man will den Alkohol nicht verbieten, nicht einmal die Drogen, aber wenn du dich einmal durchchecken lässt, dann nehmen sie dein Blut und dein Haar und deine DNS und zeichnen alles auf, was du dir angetan hast. Alles kommt in die Krankenakte und wird übers Netz verbreitet. Wenn du wie ein kleiner Heiliger lebst,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher