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Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer
Autoren: Bruce Sterling
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er Selbstgespräche führt.«
    »Worüber redet er?«
    »Ach, über nichts Besonderes. Nichts Abstraktes. Über einfache Dinge. Übers Futter. Über Wärme. Gerüche. Schließlich ist er immer noch mein braver alter Hund - tief im Innern. Nicht wahr, alter Junge?« Der Hund schaute hoch, wedelte stumm mit dem Schwanz.
    Mia hatte ein langes und schwieriges Jahrhundert durchlebt. Sie war Zeugin weltweiter Seuchen und der darauf folgenden medizinischen Umwälzungen gewesen. Mit großer Anteilnahme hatte sie verfolgt, wie man dem uralten Haus der Schmerzen neue Krypten, Befestigungen und Türme hinzugefügt hatte. Sie hatte die Statistiken studiert, die Buch führten über den Tod von Millionen von Labortieren und Milliarden von Menschen, und sie hatte den unterschiedlichen Erfolg hunderter lebensverlängernder Techniken untersucht. Sie hatte dabei mitgeholfen, die zahlreichen furchtbaren Fehler und die wenigen, aber sehr realen Erfolge zu bewerten. Sie hatte die medizinischen Fortschritte akribisch ins Verhältnis zum eingesetzten Kapital gesetzt. Sie hatte den verschiedenen Körperschaften des globalen medizinisch-industriellen Komplexes Empfehlungen gegeben. Ihre ursprüngliche Furcht vor dem Schmerz und dem Tod hatte sie niemals vergessen, ließ sich aber nicht mehr so leicht davon beeinflussen.
    Martin lag im Sterben. Um genau zu sein, litt er an amyloider neuraler Degeneration und partieller Querschnittslähmung, hatte einen Leberschaden und eine Nierenentzündung, was alles zusammengenommen die üblichen komplexen Stoffwechselstörungen zur Folge hatte, die in seiner Krankenakte nüchtern als ›unkompensierbar‹ bezeichnet wurden. Mia hatte seine Prognose natürlich aufmerksam gelesen. Doch die medizinische Analyse war ein Produkt ihrer Terminologie. Der Tod war im krassen Gegensatz dazu kein Wort. Der Tod war eine Realität, welche die Menschen heimsuchte und jeder Faser ihres Seins ihren Stempel aufdrückte.
    Dass Martin im Sterben lag, sah sie auf den ersten Blick. Er starb und äußerte Platitüden über seinen Hund, anstatt über seinen bevorstehenden Tod zu reden, weil seine größte und elementarste Sorge darin bestand, seinen Hund im Stich zu lassen. Forderungen, Verpflichtungen zwangen einen zum Weiterleben. Geliebten Menschen, Abhängigen, jedem, der sich auf einen verließ, war man es schuldig weiterzuleben. Welches Jahr schrieb man gerade, 2095? Martin war sechsundneunzig Jahre alt, und sein bester Freund war ein Hund.
    Martin Warshaw hatte sie einmal geliebt. Aus diesem Grund hatte er die Begegnung arrangiert und stellte nach fünfzig Jahren des Schweigens auf einmal emotionale Ansprüche an sie. Dies war ein komplexer Akt der Pflichterfüllung, des Zorns, des Bedauerns und der Höflichkeit, doch wie das meiste in letzter Zeit vermochte Mia auch diese Situation einzuschätzen, und zwar nur allzu gut.
    »Nimmst du hin und wieder Mnemodrogen, Mia?«
    »Ja. Ich nehme Gedächtnisdrogen. Die milderen. Wenn ich sie brauche.«
    »Sie sind hilfreich. Sie haben mir geholfen. Aber wenn man’s übertreibt, sind sie natürlich ein Laster.« Er lächelte. »In letzter Zeit habe ich’s arg übertrieben. Das Laster ist sehr reizvoll, wenn man nichts mehr zu verlieren hat. Möchtest du ein Mnemo haben?« Er bot ihr ein paar Pflaster an. Eingeschweißt, mit holographischem Aufdruck.
    Mia pellte eines aus der Verpackung, warf einen Blick auf die Bezeichnung und die empfohlene Dosierung und drückte sich das Pflaster auf den Hals. Ihm zuliebe.
    »Man sollte eigentlich meinen, nach all den Jahren hätte man ein Mnemo erfunden, das die Seele öffnet wie einen Aktenschrank.« Er holte eine gerahmte Fotografie aus dem Nachttisch hervor. »Alles hat seinen Platz, alles ist organisiert, karteimäßig erfasst und voller Bedeutung. Doch das überfordert das menschliche Gehirn. Erinnerungen verdichten sich, sie verschwimmen. Sie verwandeln sich in Mulch, verlieren all ihre
    Farbe. Die Einzelheiten gehen verloren. Wie bei einem Komposthaufen.« Er zeigte ihr das Foto: eine junge Frau in einem hoch geschlossenen Mantel, mit geschminkten Lippen und Lidstrich, das brünette Haar windzerzaust, in die Sonne blinzelnd, die Andeutung eines Lächelns um die Lippen. Etwas Zurückhaltendes lag in ihrem Lächeln.
    Die junge Frau war natürlich sie.
    Martin betrachtete das Foto, in den Nebel des Mnemos gehüllt wie in eine psychische Decke, dann sah er Mia an. »Erinnerst du dich noch an uns beide? Es ist lange her.«
    »Ich erinnere
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