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Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer
Autoren: Bruce Sterling
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stand da und wartete darauf, dass sie sich erinnerte – an irgendetwas. Dann endlich erkannte sie den Mann wieder, und das Gesicht des Sterbenden stellte sich scharf.
    Sie hatte Martin seit über fünfzig Jahren nicht mehr gesehen. Vor über siebzig Jahren hatte sie zuletzt mit ihm geschlafen.
    Doch unbestreitbar war dies Martin Warshaw. Das, was von seiner leiblichen Hülle übrig geblieben war.
    Der Hund stupste mit der kalten Schnauze Warshaws Hand an. Warshaw regte sich. »Mach die Fenster auf«, flüsterte er.
    Der Hund tippte auf einen Schalter in Bodennähe.
    Vorhänge rollten beiseite, und die wandhohen Fenster glitten auf und ließen die feuchte Pazifikluft herein.
    »Hier bin ich, Martin«, sagte Mia.
    Er blinzelte überrascht. »Du kommst früh.«
    »Ja. Ich bin deinem Hund begegnet.«
    »Ach so.« Das Kopfteil des Sterbebetts hob sich, bis er eine sitzende Haltung einnahm. »Plato, bitte bring Mia einen Stuhl.«
    Der Hund packte das geschwungene Holzbein des nächsten Stuhls und zerrte ihn, vor Anstrengung japsend und winselnd, mühsam über den Teppich. »Danke«, sagte Mia und setzte sich.
    »Plato«, sagte der Sterbende, »bitte sei jetzt still. Hör uns nicht zu, rede nicht. Du kannst abschalten.«
    »Ich soll abschalten? Ist gut, Martin.« Der Hund sank in tiefer Verwirrung auf den Teppichboden nieder. Er legte den Kopf auf den Boden und zuckte ein wenig, als ob er träumte.
    Die Wohnung war makellos sauber und verräterisch ordentlich. Alles deutete darauf hin, dass Martin das Bett seit Wochen nicht mehr verlassen hatte. Reinigungsmaschinen hatten saubergemacht, und Leute vom Sozialdienst waren auf ihrer niemals endenden Runde vorbeigekommen. Das Sterbebett wirkte diskret, doch das leise Summen und ein gelegentliches gedämpftes Gurgeln ließen erkennen, dass es gut ausgerüstet war.
    »Magst du Hunde, Mia?«
    »Das ist ein sehr hübsches Exemplar«, antwortete Mia ausweichend.
    Der Hund erhob sich, schüttelte sich ausgiebig und begann, ziellos im Raum umherzuschnüffeln.
    »Ich habe Plato jetzt seit vierzig Jahren«, sagte Martin. »Er ist einer der ältesten Hunde Kaliforniens. Einer der am stärksten modifizierten Hunde in Privatbesitz - man hat sogar in den Hundezüchterzeitschriften über ihn geschrieben.« Martin lächelte schwach. »Plato ist derzeit jedenfalls berühmter als ich.«
    »Offenbar hast du dir viel Mühe mit ihm gegeben.«
    »Oh, ja. Er hat die gleichen Prozeduren durchgemacht wie ich. Ausschabung der Arterien, Nieren-, Leber- und Lungenregeneration ... Ich habe keine lebensverlängernde Maßnahme angewendet, ohne sie zuvor am braven alten Plato ausprobiert zu haben.« Martin faltete seine knochigen, wächsernen Hände. »Natürlich ist es einfacher und billiger, veterinärmedizinisch vorzugehen, als das Leben eines Menschen über den Tod hinaus zu verlängern - aber ich nehme an, ich brauchte das Gefühl von Partnerschaft. Medizinischen Experimenten solcher Tragweite unterzieht man sich nicht gern allein…«
    Sie wusste, was er meinte. Dieses Einstellung war weit verbreitet. Tiere waren bei der Fortentwicklung der Humanmedizin schon immer die Vorreiter gewesen. »Man sieht ihm seine vierzig Jahre nicht an. Vierzig, das ist ein sehr hohes Alter für einen Hund.«
    Martin streckte die Hand nach der Bettsteuerung aus. Er streifte mit den Fingerspitzen über die Sensorfläche, dann fuhr er sich durchs Haar - nach sieben langen Jahrzehnten löste die Geste ein schockartiges Wiedererkennen bei ihr aus. »Hunde sind wunderbar unverwüstliche Geschöpfe. Schon bemerkenswert, wie gut sie durchs Leben kommen, sogar noch in der postcaninen Phase. Dies ist vermutlich besonders auf die Sprachfähigkeit zurückzuführen.«
    Mia beobachtete, wie der Hund im Zimmer umherschnüffelte. Von der schweren kognitiven Bürde des Sprechens befreit, wirkte der Hund nun viel lebhafter, unbeschwerter, weniger angestrengt und irgendwie authentischer.
    »Anfangs waren seine Äußerungen eindeutig rechnergeneriert«, sagte Martin und zupfte am Kissen. Sein Gesicht hatte ein wenig Farbe angenommen. Dies hatte er bewirkt durch ein Scharren am Touchscreen, mithilfe des Betts und der medizinischen Geräte, die unter dem Pyjama mit seinem Körper verkabelt waren. »Nichts weiter als eine Sprachprothese für ein Hundehirn. Sehr stockend, sehr ... technisch. Es hat zehn Jahre gedauert, bis die Schaltung voll integriert war. Jetzt aber ist die Sprache einfach ein Teil von ihm. Bisweilen ertappe ich ihn dabei, wie
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