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Heidelberger Wut

Heidelberger Wut

Titel: Heidelberger Wut
Autoren: Wolgang Burger
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glimpflichen Ende.
    Seligmann schwieg lange.
    »Was soll aus Jule werden ohne Sie?« Dran bleiben. Den Faden nicht abreißen lassen. »Sie dürfen sie nicht allein lassen.«
    »Sie reden schon wieder Blech«, brummte er. Aber ich spürte das Zögern. Ich fühlte, wie er ins Schwanken kam. Die Perspektive, aufzugeben, alles hinzuschmeißen, endlich Ruhe zu haben, erschien ihm jetzt mit jeder Sekunde verlockender.
    »Sie braucht Sie wirklich.«
    »Ja, natürlich …«
    »Ich verspreche Ihnen, ich werde jeden Hebel …«
    »Sie müssen mir nichts versprechen«, fiel er mir mit plötzlicher Kälte ins Wort. »Ich brauche nichts mehr.«
    Seine letzten Worte ließen meine Hoffnung wieder schwinden. »Herr Seligmann …«
    »Nein«, sagte er entschlossen. »Ich trete jetzt ans Fenster. Und Sie sorgen dafür, dass man mich erschießt. Die richtigen Leute dafür haben Sie inzwischen ja wohl zur Hand.«
    »Aber ich bitte Sie!« Ich sagte das in einem Ton, als hätte er einen schlechten Scherz gemacht. »Das geht doch nicht!«
    »Wieso? Die Straße ist nicht mal zwanzig Meter breit. Ihre Helden werden doch auf zwanzig Meter einen Menschen treffen?«
    »Sie werden es nicht mal versuchen, weil ich den Befehl dazu nicht geben kann.«
    Ächzend stemmte ich mich aus dem Sofa und trat neben Balke ans Fenster. Gegenüber fuhr langsam die Jalousie zur Seite. Seligmann trat wie angekündigt ans Fenster, öffnete es sogar, vermutlich damit es keinen unnötigen Sachschaden gab bei seinem irrwitzigen Plan. Das Handy hatte er am Ohr.
    Ich hörte seinen gepressten Atem im Telefon.
    »Selbst wenn ich es wollte, ich dürfte den Befehl nicht geben.«
    »Wieso nicht? Sind Sie nicht der Boss hier?«
    »Auch ich bin an Gesetze gebunden. Ich darf doch nicht einfach …«
    »Was muss geschehen, dass Sie dürfen? Muss man erst selbst jemanden umgelegt haben?«
    »Von mir aus können Sie die ganze Nacht am Fenster stehen«, sagte ich so locker wie möglich. »Vielleicht sterben Sie am Ende an einer Lungenentzündung. Das ist dann Ihre Sache. Aber meine Leute werden Sie sogar ins Krankenhaus fahren, um es zu verhindern.«
    Da stand er, in seinem rot karierten Flanellhemd, der Rücken ein wenig gebeugt, die Miene ratlos, fast blöde. Ich konnte sehen, wie er blinzelte.
    »Ich meine es aber ernst«, sagte er nach Sekunden trotzig.
    »Es ist trotzdem Unsinn. Das geht so nicht.«
    Die letzten Worte waren falsch gewählt, das begriff ich, noch während ich sie aussprach.
    »Was muss denn noch passieren, damit Sie schießen dürfen?«
    Meine einzige Entschuldigung ist: Auch ich war inzwischen müde. Erschöpft. Nicht mehr Herr meiner Sinne. Und nur deshalb sagte ich: »Wenn zum Beispiel eine Geisel in unmittelbarer Gefahr …«
    Ich war im Begriff, den Fehler meines Lebens zu begehen. Nein, ich hatte ihn bereits begangen.
    »Wenn das alles ist«, sagte er trocken und trat zurück. »Das können Sie haben.«
    Auf einmal war es sehr still.
    Unten war der Verkehrslärm verstummt. Erst nach einer Weile wurde mir klar, dass Balke an meiner Stelle dafür gesorgt hatte, dass die Straße gesperrt wurde.
    »Ich sehe nur noch ihn und den Doktor«, murmelte Balke, der mit einem Feldstecher neben mir stand. »Wo ist der Rest?«
    »Da!« Der Scharfschütze, der gelassen am Fensterrahmen lehnte, wies mit dem Kinn nach unten. »Da kommen sie.«
    Als ich mich vorbeugte, verschwanden die beiden Sprechstundenhilfen und ein junges Mädchen gerade um die Ecke. Ein älterer, leicht gehbehinderter Mann folgte humpelnd mit einigem Abstand. Dann war auch er nicht mehr zu sehen.
    »Er kommt!« Der Scharfschütze kniete sich hin und legte ohne meinen Befehl sein Gewehr auf der Fensterbank auf.
    Seligmann hielt einen weiß gekleideten Mann im Schwitzkasten, dessen Alter ich auf vierzig schätzte. Er war relativ klein und ziemlich rundlich, und bei seinem Anblick verstand ich auch ohne Fernglas, warum diese Art, einen Menschen festzuhalten, »Schwitzkasten« genannt wird.
    Der Mann dort drüben fürchtete um sein Leben.
    Wieder mein Handy.
    »Wir wären dann so weit«, sagte Seligmann ruhig. »Ich mache jetzt das Handy aus und halte ihm die Pistole an den Kopf. Die Geisel befindet sich in Lebensgefahr, wie Sie es wünschten. Sie haben sechzig Sekunden zum Nachdenken.«
    Er schaltete das Handy nicht aus, er warf es aus dem Fenster auf die Straße, wo es fast ohne Geräusch zerschellte. Dann zog er Heribert Brauns Beretta aus dem Hosenbund und drückte den Lauf an Doktor Novotnys
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