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Heidelberger Wut

Heidelberger Wut

Titel: Heidelberger Wut
Autoren: Wolgang Burger
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Schläfe. Dabei hielt er ihn so neben sich, dass er selbst nicht von seiner Geisel verdeckt wurde.
    Sechzig Sekunden.
    Würde er es tun, würde er wirklich abdrücken?
    Natürlich nicht.
    Aber konnte ich das Risiko eingehen?
    Nein, konnte ich nicht.
    War die Waffe überhaupt geladen? Konnte er damit umgehen? Ein Lehrer für Mathematik und Biologie?
    Der Atem des Scharfschützen ging völlig ruhig und gleichmäßig.
    Die Gewehrmündung zielte ohne jedes Zittern auf diesen Narren dort drüben.
    Die anderen standen wie erfroren hinter und neben mir. Frau Glaser hielt sich die Hände vor den Mund.
    Ich hätte sie wegschicken sollen.
    Dafür war es jetzt zu spät.
    Ich musste mich konzentrieren.
    Schweiß lief meinen Rücken hinab.
    »Chef«, sagte Balke leise. »Chef!«
    Die Gewehrmündung bewegte sich kaum merklich und unendlich langsam ein klein wenig nach links.
    Was für ein Glück, dass Sarah solche Angst vor Zahnärzten hatte.
    Die Hälfte meiner Minute war schon vergangen.
    Der Scharfschütze zog leise die Nase hoch.
    Aber ich konnte das doch nicht! Ich war Polizist, mein Beruf war es doch, Menschen zu beschützen, Leben zu retten und nicht, über ihren Tod zu bestimmen!
    Seligmann in seinem dämlichen karierten Hemd, an dem immer irgendein Knopf offen stand. Diese widerlichen Tränensäcke unter seinen Augen. Dieser hilflose Hundeblick, den sein Nachbar so verabscheute und der auf alle möglichen Frauen offenbar eine unerklärlich anziehende Wirkung hatte.
    Ich musste etwas sagen, damit im entscheidenden Moment meine Stimme funktionierte.
    »Sie schießen nur auf meinen Befehl«, sagte ich leise.
    Es ging ganz gut.
    Ob Braun wusste, dass seine Frau ein Verhältnis mit seinem verhassten Nachbarn hatte? Vielleicht rührte daher seine Antipathie gegen Seligmann?
    »Zwanzig Sekunden«, sagte Balke leise.
    Seligmann straffte sich. Ich konnte sehen, wie er die Augen schloss.
    So sieht also einer aus, der auf seine Erschießung wartet.
    Im Grunde ganz normal.
    Und ich hatte ihn zu liefern, den Tod, weil er ein Feigling war.
    Worauf wartete ich noch? Gefahr im Verzug, finaler Rettungsschuss, kein Mensch würde mir einen Vorwurf machen.
    Was für ein Glück, dass Sarah …
    »Fünfzehn«, sagte Balke etwas lauter.
    Der Zahnarzt stand offensichtlich kurz vor der Ohnmacht.
    Seligmanns Daumen spannte den Hahn.
    Der wusste ganz genau, wie die Beretta funktionierte. Hoffentlich traf unser Schütze gut, damit Seligmann nicht noch im Augenblick seines Todes abdrückte, ohne es zu wollen.
    Sein Zeigefinger krümmte sich langsam.
    Wenn die Pistole überhaupt geladen war.
    »Zehn.«
    Und plötzlich war diese Wut da. Diese alles vernichten wollende, gnadenlose Wut, die meine Zähne ganz von alleine knirschen ließ. Sollte er doch verrecken dort drüben. Was ging es mich an.
    »Kopfschuss«, wollte mein Mund sagen, »Feuer frei.«
    Aber Jule …?
    »Fünf!«, sagte Balke.
    »Rechte Schulter.« Plötzlich war ich ganz ruhig. »Jetzt.«
    Der Gewehrlauf ruckte eine Winzigkeit nach links. Die Kugel riss Seligmann in einer halben Drehung zurück, weg von seiner Geisel, die Beretta flog irgendwohin, und im nächsten Augenblick war drüben niemand mehr zu sehen.
    Jemand atmete sehr geräuschvoll aus.
    Eine kurze Weile war es vollkommen still. Diese Stille nach dem Schuss, der gar nicht so übertrieben laut gewesen war. Gewehrschüsse sind viel leiser als Pistolenschüsse. Was für ein Kaliber hatte eigentlich diese Beretta?
    Drüben erschien der rote Kopf des Arztes am unteren Rand des Fensters. Er sah um sich, als wäre er eben erst in diese Welt gefallen, und wollte nun herausfinden, ob sie ihm gefiel. Er öffnete den Mund, um etwas zu rufen, es kam aber nichts. Wieder und wieder wischte er sich über die Stirn.
    Irgendwer brüllte etwas, unten auf dem Gehweg, was ich nicht verstand, und dann war auf einmal überall Bewegung.
    »Wir müssen rüber«, sagte Balke entschlossen und rannte davon.
    Wir brauchten keine zwanzig Sekunden auf die Straße und weitere vierzig bis vor die Tür der Praxis. Balke blieb nicht einmal stehen, sondern rammte sie aus vollem Lauf mit der Schulter auf. Im selben Augenblick öffnete jedoch der Zahnarzt von innen, so dass beide ziemlich unelegant übereinanderpurzelten.
    Dann standen wir schwer atmend vor Xaver Seligmanns blutendem Körper. Er war bewusstlos. Der Schuss hatte exakt die rechte Schulter getroffen und ihn mit großer Wucht einige Meter ins Wartezimmer hineingeschleudert.
    Balke steckte seine
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