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Heidelberger Wut

Heidelberger Wut

Titel: Heidelberger Wut
Autoren: Wolgang Burger
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    Noch eine Minute.
    In sechzig Sekunden wird einer der beiden Männer dort drüben tot sein. Und ich soll entscheiden, welcher. Da stehen sie am Fenster, jenseits der breiten Straße, die seit einer Weile gesperrt ist und ganz menschenleer und totenstill.
    Der schwarz vermummte Scharfschütze kniet vor mir und ist die Ruhe selbst. Sein schweres Präzisionsgewehr hat er auf der Fensterbank aufgelegt. Verschmolzen mit seiner Waffe, ein verlässlicher Handwerker des Todes. Balke, bleich wie noch nie, sieht fassungslos mit halb offenem Mund abwechselnd zu mir und auf dieses offene Fenster jenseits der Straße. Klara Vangelis, die sonst gar nichts umwirft, hat sich abgewandt, kann nicht mehr hinsehen. Und Seligmann, dieser Idiot, er hat mir das eingebrockt. Der Mann, der so viele Menschen ins Unglück gebracht hat. Er oder der Zahnarzt, dessen Namen ich mir einfach nicht merken kann, einer von beiden soll nun also sterben.
    In spätestens fünfzig Sekunden.
    »Chef!«, flüstert Balke mahnend, als hätte er Sorge, ich hätte stehend das Bewusstsein verloren. »Chef!«
    Die Gewehrmündung bewegt sich kaum merklich und unendlich langsam ein klein wenig nach rechts.
    Aber ich kann das doch nicht! Ich kann diese Entscheidung nicht treffen. Ich bin Polizist. Meine Aufgabe ist es, Menschen zu beschützen, Leben zu retten und nicht, über ihren Tod zu bestimmen. Ausgerechnet jetzt fällt mir der Moment ein, als ich den Namen Seligmann zum ersten Mal hörte und natürlich nicht ahnte, was auf mich zukam. Wann? Vor drei Wochen? Vor vier? Eines weiß ich noch, es war an einem Freitag. Und plötzlich ist diese Wut da. Diese alles vernichten wollende, gnadenlose Wut, die meine Zähne ganz von alleine knirschen lässt. Sollen sie doch alle beide verrecken dort drüben! Was geht es mich an?
    »Noch zwanzig Sekunden«, sagt Balke leise.
    Diese Wut, die mich in der nächsten Sekunde zum Platzen bringen wird.
    Wut auf wen?
    Ja, auf wen eigentlich?
     
    Ich hatte es eilig an jenem Freitag, daran erinnere ich mich noch gut. Es war schon später Nachmittag, und ich kam von einer nervtötend langen Besprechung mit der Staatsanwaltschaft, wo man dringend auf irgendwelche Akten und Ermittlungsergebnisse meiner Leute wartete, denn nächsten Mittwoch sollte die Hauptverhandlung beginnen. Außerdem waren die Herrschaften natürlich nicht begeistert, dass wir den Bankraub mit Geiselnahme noch immer nicht aufgeklärt hatten, der jetzt schon vier Wochen zurücklag. Immerhin gab es hier eine erste kleine Spur.
    Ich hetzte die lichten Treppen der Polizeidirektion hinauf zum zweiten Stock, zur Chefetage, wo auch mein Büro lag. Um fünf, in zwei Minuten, hatte ich einen Termin bei Polizeidirektor Liebekind, meinem Vorgesetzten. Der schätzte es nicht, wenn man ihn warten ließ, und ich hatte meine ganz speziellen Gründe, ihn bei Laune zu halten.
    Ein schlanker junger Mann kam mir entgegen. Er trug eine derbe Lederjacke, die nicht recht zu seinem schmalen Gesicht passen wollte, und einen schwarzen Motorradhelm unterm Arm. Unsicher sah er mir ins Gesicht, als wäre er sich unschlüssig, ob er es wagen durfte, mich anzusprechen. Sein Alter schätzte ich auf Mitte zwanzig, intelligente, wache Augen und weiches, langes Haar – meine Töchter wären entzückt gewesen.
    Mein Gefühl täuschte mich nicht.
    »Sind Sie nicht von der Kripo?«, fragte er, als ich an ihm vorbeiwollte. »Ich kenn Sie aus dem Fernsehen.«
    »Ja«, keuchte ich, vom Laufen ein wenig außer Atem.
    »Hätten Sie vielleicht ein paar Sekunden Zeit für mich?«
    »Nein«, sagte ich und blieb stehen. »Ja, wenn es wirklich nur ein paar Sekunden sind. Worum geht’s denn?«
    »Um meine Mutter.« Er sprach mit angenehm leiser Stimme, senkte den Blick, spielte mit zartgliedrigen Fingern an seinem furchterregenden Helm mit dunklem Visier herum, der zu ihm passte wie ein Hammer in ein Nähkästchen. »Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie aufhalte. Aber sonst will ja hier keiner mit mir reden.«
    »Aber machen Sie es bitte kurz.«
    Aus irgendeinem Grund mochte ich den ratlosen Kerl. Ich war Vater zweier Töchter, und für weitere Kinder war es mit meinen vierundvierzig Jahren schon ein bisschen spät. Aber wenn ich jemals noch einen Sohn haben sollte, dann bitte einen wie diesen hier. Wäre es anders gewesen, ich hätte ihn vermutlich stehen lassen. Jemand ging in meinem Rücken die Treppe hinunter, grüßte und wünschte mir ein schönes Wochenende. Ich grüßte zurück, ohne hinzusehen.
    »Was
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