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Haut

Haut

Titel: Haut
Autoren: Mo Hayder
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atmend hielt sie sich in der Schwebe; nur ihr Gesicht ragte heraus. Sie stemmte die Beine an die Wände und drückte die Schulter an die Kante. Wenn irgendetwas passieren sollte, würde sie das Auslassventil gegen die Steinwand schlagen, die Luft aus dem Anzug lassen und senkrecht in den Kamin hinabtauchen. Sie konzentrierte sich auf das Atmen. Ein und aus. Ein und aus.
    Fast eine Minute verging. Keine Hände griffen nach ihrem Kopf. Kein Gesicht erschien vor ihrer Maske. Vorsichtig hob sie die Lampe aus dem Wasser. Der Lichtstrahl irrte durch die Dunkelheit und traf dann ungefähr fünf Meter vor ihr auf eine Felswand - auf bemoostes, tropfendes Gestein. Sie leuchtete weiter nach links: Auch dort war Fels. Kein Nebel, kein Mond, keine Bäume. Als sie den Strahl nach oben richtete, entdeckte sie ungefähr zwölf Meter über sich eine Decke. Die Gerüchte stimmten. Sie war in einer Höhle der alten Bleibergwerke herausgekommen.
    Nachdem es in anderen britischen Tauchereinheiten zu tödlichen Unfällen gekommen war, hatte man ihr im Training immer wieder eingeschärft: Niemals die Maske abnehmen! Nicht, solange du nicht weißt, wie die Luft ist. Sie schob sich mit den Füßen langsam höher und hievte sich dann aus dem Loch. Sie kniete auf dem Rand, hockte sich auf die Fersen und streckte die Lampe vor sich aus wie eine Waffe; die ganze Zeit war sie darauf gefasst, sich sofort wieder rückwärts in den Kamin fallen zu lassen. Langsam streifte sie das Maskenband mit der freien Hand von ihrem Ohr, legte den Kopf schräg und lauschte mit angehaltenem Atem.
    Jemand atmete. Irgendwo in der Dunkelheit. Jemand versteckte sich zwischen den Felsen.
    Sie nahm die Maske vom Gesicht. Schnupperte. Kostete die Luft. Wartete. Sie war sauber. Sie war feucht und roch nach Wasser und modrigem Laub. Aber sie war sauber. Sie schlang das Maskenband um ihr Handgelenk, sodass sie die Maske gleich wieder aufsetzen konnte, und stützte sich mit den Fingern der rechten Hand auf den Boden. Ihre Beinmuskeln schrien lautlos auf, als sie sich vorbeugte und mit der Lampe in die Richtung leuchtete, aus der das Atmen kam.
    Der Strahl traf auf schwarzen Fels und glitt darüber hinweg. Da blinkte etwas, in einer Spalte. Augen. Elliptisch, waagerecht, ungefähr einen Meter hoch über dem Boden. Menschliche Augen, aber gelb und schmutzig. Sie starrten sie an. Das Licht ließ sie blinzeln, und für einen Moment hob sich eine große Hand und schirmte sie ab. Jetzt konnte sie abschätzen, wie groß der Kopf war. Er sah aus wie ein Amboss, der Kiefer war zu breit, der Hals gedrungen und fast nicht vorhanden. Sie sah die Spitzen der Rippen, die vorstanden, als wären die Knochen des Brustkorbs zu groß. Sie hörte schweres Atmen. Das war keine Elfe, kein Troll, Kobold oder Gnom, kein Tokoloshe. Das war ein Mensch. Er trug ein verschlissenes Sweatshirt, Shorts und ausgetretene Flip-Flops. Flea hielt sich aufrecht. Blieb ruhig.
    »Polizei. Nicht bewegen. Und kommen Sie nicht näher.«
    Die Augen blinzelten.
    »Machen Sie auch nur einen verdammten Schritt, gibt es hier die schlimmsten Prügel, die Sie jemals bezogen haben. Okay?« Er zögerte. Dann nickte er. Sie stemmte sich hoch. Schaute ihn an. »Arnos. Sie sind Arnos. Sind Sie mir gefolgt?« Er schüttelte den Kopf.
    »Und wie war es letzte Woche in der illegalen Wohnung, in die wir eingedrungen sind?« Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, um den Geschmack des Steinbruchs loszuwerden. »Da war ich zusammen mit einem zweiten Polizisten. Einem Mann. In Zivil.«
    Schweigen. Die Augen musterten sie aufmerksam, und jetzt erkannte sie im Schein der Lampe noch etwas anderes. Einen Schimmer von Plastik. Staubehälter aus weißem Plastik, wie man sie im Zimmer eines Teenagers finden konnte. Vier, vielleicht fünf Stück, aufeinandergestapelt. Dann sah sie noch andere Habseligkeiten und roch Feuer. Sah einen zerlumpten Schlafsack. Und sie begriff, dass er hier wohnte. Hier im Dunkeln zwischen Moos und moderndem Laub und toten Insekten fristete er sein Dasein.
    »Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber Sie sind nicht aus England. Sie sind Afrikaner. Aus Tansania.«
    Die Augen starrten sie unverwandt an. Er wartete darauf, dass sie weitersprach.
    »Sie sind illegal hier. Und Sie sitzen ernsthaft in der Scheiße. Sowohl hier als auch zu Hause.« Sie bewegte die Zunge im Mund herum und versuchte, den Speichelfluss in Gang zu bringen. »Ich könnte die Scheiße für Sie noch schlimmer machen. Und ich werde es
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