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Haut

Haut

Titel: Haut
Autoren: Mo Hayder
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Augen auf, hob die Lampe und schwenkte den Lichtstrahl hin und her durch die Finsternis. Sie umklammerte die Lampe fester, hielt sie ruhiger, richtete sie hierhin und dorthin und suchte den Ursprung des Geräuschs.
    »Mum?«
    Keine Antwort.
    »Mum?«
    Sie ruderte mit der freien Hand und drehte sich im Wasser. Der Lichtstrahl wanderte um sie herum. Es war eine Halluzination gewesen.
    »Mum? Bist du da?«
    Eine Bewegung. Links von ihr. Knapp außerhalb des Lichtstrahls. Sie schwenkte ihn hinüber. Ungefähr fünf Meter weit vor sich sah sie Füße. Menschliche Füße. Sie schwammen davon, schnell.
    Arnos Chipeta.
    Sie streckte die Arme aus und umklammerte die Lampe mit beiden Händen. Der Lichtstrahl tanzte wie verrückt durch das Nichts. Die Füße waren verschwunden. Das Licht fiel ins Leere.
    Ihr Herz hämmerte in der Brust, als sie den Oberkörper nach vorn neigte und in die Richtung schwamm, wo die Füße gewesen waren. Ihr Instinkt riet ihr, die Lampe auszuschalten; was immer da vor ihr im Dunkeln verschwunden war, durfte sie nicht sehen. Aber ohne die Lampe war sie blind. Sie schirmte das Licht mit der Hand ab und ließ nur einen schwachen Schimmer zwischen den Fingern hindurchdringen. Vorsichtig schwamm sie vorwärts.
    Dem Kompass zufolge bewegte sich das, was da gewesen war, westwärts und schräg nach oben. Sie erreichte die geflutete Felswand des Steinbruchs, lenkte den Strahl daran entlang und sah nichts. Sie drehte sich um. Auch nichts. Sie warf einen Blick auf den Tiefenmesser; sie befand sich immer noch dreißig Meter unter der Oberfläche. Sie richtete den Lichtstrahl nach oben und schwenkte ihn im Bogen hin und her. Selbst wenn er schnell vorankam, müsste Chipeta noch in Reichweite sein. Sie leuchtete nach unten, hin und her, in jeden Winkel, aber sie entdeckte nichts. Nur die Wasserpflanzen an der Felswand bewegten sich träge hin und her.
    Dann fiel ihr etwas ein. Angeblich war der Steinbruch mit den Höhlen verbunden, die der römische Bleibergbau hinterlassen hatte. Es sollte Tunnel dorthin geben. Sie klemmte die Lampe unter die Auftriebsweste und fuhr mit den Händen über den schleimig glatten Fels.
    Kaum hatte sie angefangen zu suchen, fand sie es auch schon. Da war ein Hohlraum. Eine Stelle, die dunkler wirkte als das Felsgestein ringsum. Auf dem Plan des Steinbruchs war nichts davon verzeichnet, da war sie beinahe sicher. Sie schob die Hand hinein, leuchtete an den Rändern entlang und dann hinein, um herauszufinden, wie tief das Loch war. Sie sah kein Ende; das Licht fiel ins Dunkle. Es war ein großes Loch, drei Männer würden hindurchpassen, selbst in voller Taucherausrüstung.
    Sie verzog das Gesicht. Es gab keine Ausrede.
    Ein Flossenschlag trieb sie voran und in die Öffnung. Sie legte die Hände an die Wand und tastete sich mit den Fingern voran; sie wusste, wie schnell sie in einen Engpass geraten konnte, der ihr die Flaschen vom Rücken reißen würde. So waren Taucher gestorben, beispielsweise im Sinkloch von Eagle's Nest oder in den Höhlensystemen von Yucatan - nicht wie ihre Eltern im freien, tödlichen Fall auf den Grund, sondern verheddert in Führungsleinen, eingeklemmt zwischen Felsen, gefangen in Sumpflöchern und engen Tunnelröhren. Bis die Sauerstoffanzeige auf den kritischen Punkt sank. Bis die Pony-Flasche leer war und die Lunge an einem Vakuum saugte. Es war die schlimmste Art zu sterben.
    Der Boden des Tunnels führte aufwärts. Sie erreichte einen Kamin, eine enge Röhre von etwas mehr als einem Meter Durchmesser, die bald senkrecht nach oben aufstieg. Im Licht der Lampe erkannte sie, dass es geradlinig hinaufging; die Wände waren glatt, fast wie mit einer Maschine bearbeitet. Sie zwang sich zu einem kurzen Dekompressionsstopp: Sie atmete langsam und stellte sich vor, wie der Stickstoff aus ihren Muskeln perlte. Eine Zahl folgte der anderen auf dem digitalen Zifferblatt ihrer Uhr. Sechs Minuten. Das musste genügen. Sie füllte ihre Jacke mit Luft und schob sich mit einer erhobenen Hand in den Kamin.
    Die Luft in der Jacke ließ sie schnell steigen. Die Wände glitten vorüber, schwarzer, streifiger Kalkstein. Immer höher und höher, die langgestreckte Röhre saugte den Lichtkreis ihrer Lampe nach oben, es war wie ein Traum. Gib Acht auf dich, dröhnte es bei jedem Herzschlag in ihren Ohren. Und schließlich, ganz unerwartet, brach sie durch die Wasseroberfläche an die Luft.
    Es war dunkel. Ungelenk schob sie einen Ellbogen über den Rand des Kamins. Schwer
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