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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter
Autoren: Heinrich Böl
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zu seiner und seiner Mutter Ernährung bei, indem er für die zahlreichen Hausbewohner gegen Umsatzprovision auf dem Schwarzmarkt Besorgungen machte. Mit Geld und einem guten Gedächtnis bewaffnet, ging der hübsche kleine Junge, der seinem Vater glich, mittags gegen zwölf los und besorgte, was immer zu besorgen war Ȭ Brot, Tabak, Zigaretten, Kaffee, Süßstoff und manchmal ausgefallene, kostbare Dinge: Margarine, Butter und
    Glühbirnen. Bei sehr kostbaren und umfangreicheren Besorgungen diente er
    den Hausbewohnern als Führer, denn er kannte jedermann auf dem Schwarzmarkt und wußte von jedem, womit er Handel trieb. Er galt unter den Schwarzhändlern als tabu, und wer den Jungen betrog und dabei ertappt wurde, wurde rücksichtslos boykottiert und mußte an einer anderen Stelle der Stadt seinen Handel eröffnen.
    Seine Intelligenz und Wachsamkeit trugen dem Jungen nicht nur tägliche
    Prozente im Gegenwert eines Brotes ein, sondern auch eine Rechenfertigkeit, von der er noch jahrelang in der Schule zehrte: Im dritten Schuljahr erst waren Rechenaufgaben fällig, die er schon in der Praxis geübt hatte, bevor er in die Schule kam.
    Was kosten zwei Achtelpfund Kaffee, wenn ein Kilo zweiunddreißig Mark kostet?
    Die Lösung solcher Aufgaben war damals für ihn an der Tagesordnung gewesen, denn es gab sehr schlechte Monate, in denen er das Brot fünfzig Ȭ oder hundertgrammweise, den Tabak in noch geringeren Portionen, den Kaffee per Lot kaufte, winzige Quantitäten, die Vollkommenheit in der Bruchrechnung voraussetzten, wenn man nicht betrogen werden wollte. Gert verschwand sehr plötzlich. Seine Gerüche blieben in der Erinnerung: nasser Gips, Anis, Bratkartoffeln mit Zwiebeln und Margarine gebraten Ȭ seine Erbschaft war das Wort Scheiße, das unausrottbar in den Wortschatz der Mutter geraten war, und der Gegenstand, der von ihm blieb, war die Heeresarmbanduhr. — Nach Gerts sehr plötzlichem Verschwinden weinte die Mutter, was sie beim Abschied von Erich nicht getan hatte Ȭ und nicht sehr viel später tauchte ein neuer Onkel auf, der Karl hieß. Karl beanspruchte nach kurzer Zeit schon den Titel eines Vaters, obwohl er diesen Titel nicht beanspruchen konnte. Karl war Angestellter eines städtischen Amtes, trug nicht Ȭ wie Gert es getan hatte Ȭ eine alte Uniformbluse, sondern einen richtigen Anzug und kündigte mit heller Stimme den Beginn eines »neuen Lebens« an.
    Heinrich nannte ihn in seiner Erinnerung nur »Neues Ȭ Leben Ȭ Karl«, denn dieses Wort sprach Karl täglich mehrmals aus. Der Geruch, der zu Karl gehörte, war der Geruch von Suppen, die den städtischen Angestellten zu
    werden mochten, ob sie fett oder süß waren Ȭ , alle Suppen rochen nach
    Thermophor und nach Viel. Karl brachte täglich in einem alten Heereskochgeschirr die Hälfte seiner Portion mit, manchmal mehr, wenn er an der Reihe gewesen war, den Nachschlag zu bekommen; eine Vergünstigung, deren Charakter Heinrich nie ganz genau herausbekam. Ob die Suppe nach süßem Biskuitmehl schmeckte oder künstlichem Ochsenschwanzaroma: Sie roch auf jeden Fall nach Thermophor, und doch: die Suppe war herrlich. Karl trug das Kochgeschirr meist in der Hand. Eine Segeltuchhülle war dafür genäht und der Griff mit grauem Strumpfgarn umwickelt worden, denn Karl konnte die Suppe nicht in seiner Aktentasche transportieren, weil in den Straßenbahnen ständig Gedränge herrschte, die Suppe überschwappte und Karls Aktentasche beschmutzte. Karl war freundlich und genügsam, aber sein Auftauchen hatte auch schmerzliche Folgen, denn Karl war ebenso streng wie genügsam und untersagte jegliche Verbindung zum Schwarzmarkt. »Kann ich mir als Behördenangestellter nicht leisten... außerdem werden Moral und Volkswirtschaft untergraben.« Karls Strenge wirkte in ein böses Jahr hinein: das Jahr 1947. Knappe Rationen, wenn es überhaupt welche gab Ȭ und Karls Suppendeputat machte nicht das Brot wett, das Heinrich jeden Tag an Provision verdient hatte. Heinrich, der mit seiner Mutter und Karl in einem Z immer schlief Ȭ wie er mit Mutter und Onkel Gert, mit Mutter und Onkel Erich in einem Zimmer geschlafen hatte Ȭ , Heinrich mußte sich herumdrehen, wenn Karl mit seiner Mutter bei gedämpftem Licht am Radioapparat saß. Er drehte sich herum und konnte dann genau auf das Bild seines Vaters sehen, der in der Uniform eines Panzerfeldwebels fotografiert worden war, kurz bevor er starb. Während der Herrschaft sämtlicher Onkel hatte das Bild des Vaters an der
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