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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter
Autoren: Heinrich Böl
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»Villa Elisabeth« übrigblieb, diese Frau war ruhig gewesen. Leo war laut. Leo wurde Hauptabnehmer für Suppe, die er mit Zigaretten bezahlte und deren Preis er genau aushandelte: Süße Suppe stand bei Leo hoch im Kurs. Eines Abends, als Leo Tabak brachte, Suppe dafür holte, stellte er plötzlich den Topf wieder hin, sah die Mutter lachend an und sagte: »Passen Sie mal auf, was man jetzt tanzt. Sind Sie eigentlich in den letzten Jahren mal tanzen gewesen?« Leo tanzte etwas ganz Verrücktes Ȭ er warf die Beine hoch, schlenkerte mit den Armen und jaulte seltsam dazu. Die Mutter lachte und sagte: »Nein, ich habe lange nicht mehr getanzt.« »Das sollten Sie aber«,
    summte eine Melodie, nahm die Mutter bei der Hand, zog sie vom Stuhl
    hoch und tanzte mit ihr Ȭ und das Gesicht der Mutter veränderte sich sehr: Sie lächelte plötzlich, lächelte sehr freundlich und sah viel jünger aus. »Ach früher«, sagte sie, »früher bin ich oft tanzen gegangen.«
    »Dann kommen Sie doch mal mit, ich bin in einem Tanzklub«, sagte Leo. »Sie tanzen wunderbar.«
    Die Mutter ging tatsächlich in den Tanzklub, und Leo wurde Onkel Leo, und
    wieder kam ein »es«. Heinrich hörte scharf hin und erkannte bald, daß diesmal die Parteien gewechselt hatten. Denn diesmal sagte die Mutter, was damals Karl gesagt hatte. »Ich halte >es<.« Und Leo sagte das, was damals die Mutter gesagt hatte: »Du machst >es< weg.«
    Zu dieser Zeit war Heinrich schon im zweiten Schuljahr, und er wußte längst, was »es« war, denn er hatte von Martin erfahren, was dieser wiederum von seinem Onkel Albert erfahren hatte: daß durch die Vereinigung der Frauen mit den Männern die Kinder entstanden, und es war klar, daß »es« ein Kind war, und er brauchte nur für »es« Kind einzusetzen. »Ich behalte das Kind«, sagte die Mutter. »Du machst das Kind weg«, sagte Onkel Leo. »Ich mache das Kind weg« hatte die Mutter zu Karl gesagt. Ȭ »Du machst das Kind nicht weg«, hatte Karl gesagt. Daß die Mutter sich mit Karl vereinigt hatte, war ihm damals schon klar gewesen, obwohl er damals nicht »vereinigt« dachte, sondern etwas anderes, was nicht so vornehm klang. Man konnte also Kinder wegmachen. Weggemacht worden war das Kind, um dessentwillen Karl damals gegangen war. Karl war nicht der übelste Onkel gewesen.
    »Es« kam, das Kind, und Leo drohte: »Ich bring ȇ es in die Anstalt, wenn du
    deine Stelle aufgibst.« Aber die Mutter mußte die Stelle doch aufgeben, denn die Suppe, die zu vergünstigten Bedingungen an die städtischen Angestellten ausgegeben wurde, fiel weg Ȭ und es gab bald keinen Schwarzmarkt mehr. Niemand mehr war wild auf die Suppe, es gab neues Geld, knappes Geld, und in den Geschäften gab es Dinge, die es früher nicht einmal auf dem Schwarzmarkt gegeben hatte. Die Mutter weinte, und »es« war klein und hieß Wilma, wie die Mutter hieß; Leo war böse, bis die Mutter wieder bei einem Bäcker Arbeit fand. Onkel Albert kam und bot der Mutter Geld an, die Mutter nahm es nicht, und Onkel Leo schrie sie an, und Martins
    Onkel Leos Spezialgeruch war der von Rasierwasser. Rot war Leo im Gesicht, rot vor Sauberkeit, und er hatte pechschwarze Haare; Leo verwandte viel Zeit auf die Pflege seiner Fingernägel und trug in der Uniformbluse immer einen gelben Schal. Und Leo war geizig: Für Kinder gab er überhaupt kein Geld aus, und darin unterschied er sich von Martins Onkel Will und Martins Onkel Albert, die sehr viel verschenkten. Will war auf eine andere Art Onkel als Leo und Leo wiederum auf eine andere Art als Albert. Langsam bildeten sich Onkelkategorien: Will war ein richtiger Onkel, Leo war ein Onkel wie Erich, Gert und Karl Onkel gewesen waren: Onkel, die sich mit der Mutter vereinigten. Albert aber wiederum war ein anderer Onkel als Will und als Leo: kein richtiger Onkel wie Will, der im Range eines Großvaters stand, doch auch kein Vereinigungsonkel. Der Vater, das war das Bild an der Wand: ein lachender Feldwebel, der vor zehn Jahren fotografiert worden war. Hatte er den Vater anfangs für alt gehalten, so hielt er ihn jetzt für jung, immer näherkommend: Langsam wuchs er auf den Vater zu, der nur noch wenig mehr als doppelt so alt war wie er. Im Anfang war der Vater viermal, fünfmal so alt gewesen wie er. Und auf einem anderen Foto, das daneben hing, war die Mutter achtzehn: Sah sie nicht fast aus wie die Mädchen, die zur Erstkommunion gingen?
    Onkel Will war fast sechsmal so alt wie er, und doch kam er sich gegen Will
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