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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter
Autoren: Heinrich Böl
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gelesen hatte, das sie nicht hätte lesen dürfen — kaltblütig und doch liebenswürdig und mit einem bewun Ȭ dernswerten Mut wandte dieses junge Mädchen an, was sie nachts, wenn die Eltern längst schliefen, in dem Buch mit den rötlich Ȭ weißlichen, gelblichen Bildern gelesen hatte: Sie durch Ȭ
    schnitt die Nabelschnur mit der sterilisierten Nähschere ihrer Mutter, die mißtrauisch und doch bewundernd die Kenntnisse ihrer Tochter feststellte. Als die Entwarnung kam, hörten sie die Sirenen aus sehr weiter Ferne, so wie tief im Wald versteckte Tiere das Halali vernehmen: Die Trümmer des Hauses, die sich über ihnen türmten, verursachten jene unheimlich sanfte Akustik, und Brielachs Mutter, die allein mit der vierzehnjährigen Helferin im Keller zurückblieb, hörte die Schreie der anderen, denen es nicht gelang, durch den verschütteten Flur nach oben zu dringen. »Wie heißt du?« fragte sie das Mädchen, das sie noch nie gesehen hatte.
    »Henriette Schädel«, sagte das Mädchen Ȭ und es zog ein Stück nagelneuer grüner Seife aus der Tasche,und Frau Brielach sagte: »Laß mich mal riechen«, und sie roch an der Seife und weinte vor Glück, während das Mädchen das Kind in eine Decke gewickelt hielt.
    Sie besaß nichts mehr als ihre Handtasche mit dem Geld, den Le Ȭ bensmittelmarken, das schmutzige Handtuch, das der Spender unter ihrem Kopf hatte liegenlassen, und ein paar Fotografien ihres Mannes: Eine zeigte ihn als Zivilisten im Autoschlosserdreß, sehr jung war er darauf, und er lachte; eine als Panzergefreiten, auch lachend, und eine dritte als Panzerunteroffizier mit dem EK 2 und einem Kampfabzeichen, auch lachend, und die neueste Ȭ sie hatte sie vor acht Tagen bekommen Ȭ zeigte ihn als Panzerfeldwebel mit beiden EKs, wiederum lachend. Zehn Tage nach ihrer Entbindung befand sie sich, ohne daß sie gefragt worden war, in einem Zug, der sie ostwärts brachte, und in einem Dorf in Sachsen erfuhr sie zwei Monate später, daß ihr Mann gefallen war.
    Mit achtzehn Jahren hatte sie einen schmucken Panzergefreiten geheiratet, dessen Körper jetzt irgendwo zwischen Saporoshe und Dnjepropetrowsk vermoderte. Jetzt war sie einundzwanzig Jahre alt, Witwe eines schmucken Feldwebels, besaß ein zwölf Wochen altes Kind, zwei Handtücher, zwei Kochtöpfe und etwas Geld, und sie war hübsch.
    Der kleine Junge, den sie auf den Vornamen seines Vaters Heinrich hatte taufen lassen, wuchs in dem Bewußtsein auf, daß Onkel zu Müttern gehören. Seine ersten Lebensjahre standen unter dem Zeichen eines On Ȭ
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    kels, der Erich hieß und eine braune Uniform trug: Er gehörte sowohl der
    geheimnisvollen Kategorie der Onkel an, als auch einer zweiten, nicht weniger geheimnisvollen Kategorie, der der Nazis. Ȭ Mit beiden Kategorien stimmte etwas nicht. Das bekam er als Vierjähriger mehr oder weniger zu spüren, vermochte sich aber nicht klar darüber zu werden.
    Onkel Erich jedenfalls vergaß er nie. Onkel Erich litt unter einer Krankheit, die Assma hieß: nächtliches Stöhnen und Ächzen, der klägliche Ruf: »Ich ersticke«, mit Essig getränkte Tücher merkwürdig riechende Tees und der Geruch von Kampfer blieben in der Erinnerung des Kindes zurück, und ein Gegenstand, der Onkel Erich gehört hatte, ging aus Sachsen mit in die alte Heimat: ein Feuerzeug. Erich blieb in Sachsen, aber das Feuerzeug ging mit, und die Gerüche blieben in Heinrichs Erinnerung.
    Ein neuer Onkel tauchte auf, der mit zwei Gerüchen in die Erinnerung
    einging: Amis Ȭ das war der Geruch von Virginiazigaretten Ȭ und nasser Gips. Nebengerüche dieses Onkels waren: der Geruch in der Pfanne zerlassener Margarine, der Geruch von Bratkartoffeln Ȭ und dieser Onkel, der Gert hieß, war in weniger mystischer Ferne als der, der Erich geheißen hatte und in Sachsen geblieben war. Gert ging dem Beruf eines Plattenlegers nach, und dieses Wort beschwor den Geruch des nassen Gipses, nassen Zements ganz nah heran, und mit Gert verband sich das häufig ausgesprochene, ständig wiederholte Wort, das nach Gerts Weggang im Sprachgebrauch der Mutter erhalten blieb, das Wort Scheiße. Ein Wort, das merkwürdigerweise die Mutter sagen, das er aber nie aussprechen durfte. Auch Gert ließ außer den Gerüchen und dem Wort einen Gegenstand als Erinnerung zurück: eine Armbanduhr, die er der Mutter schenkte, eine Heeresarmbanduhr, die auf achtzehn Steinen lief Ȭ geheimnisvolle Qualitätsbezeichnung.
    Um diese Zeit war Heinrich Brielach fünfeinhalb, und er trug
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