Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter
Autoren: Heinrich Böl
Vom Netzwerk:
zu leicht, viel zu heiter, viel zu jung aussah, um ein richtiger Vater zu sein. Das
    Kennzeichen der Väter war Regelmäßigkeit, ein Kennzeichen, das Onkel
    Albert bis zu einem gewissen Grade besaß, aber sein Vater sah nicht nach Regelmäßigkeit aus. Regelmäßigkeit war: Aufstehen, Frühstücksei, Arbeit, Zeitung, Heimkehr, Schlaf. All das paßte nicht zu seinem Vater, der sehr fern am Rande eines russischen Dorfes begraben lag. Sah er jetzt, nach zehn Jahren, schon wie das Skelett im Gesundheitsministerium aus? Beinernes, grinsendes Gestell, Obersoldat und Dichter, verwirrende Kombination von Eigenschaften, Brielachs Vater war Feldwebel gewesen, Feldwebel und Autoschlosser. Anderer Jungen Väter waren Major und Direktor, Unteroffizier und Buchhalter, Obergefreiter und Redakteur Ȭ keines einzigen Jungen Vater war Obersoldat gewesen und keines einzigen Jungen Vater Dichter. Brielachs Onkel Leo war Wachtmeister gewesen, Wachtmeister und Straßenbahnschaffner, Buntfoto auf dem Küchenschrank zwischen Sago und Grieß. Was war Sago? Geheimnisvolles Wort, das nach Südamerika klang. Später kamen Katechismusfragen hoch: taumelnde Ziffern, mit denen eine Frage und eine Antwort zusammenhing. Frage II: Wie behandelt Gott den Sünder, der sich bessern will?
    Antwort: Gott verzeiht gern jedem Sünder, der sich bessern will. Und der verwirrende Vers: Wenn Du der Sünden willst gedenken, Herr, wer wird vor Dir bestehen?
    Niemand würde bestehen. Nach Brielachs sicherer Überzeugung waren alle Erwachsenen unmoralisch und alle Kinder unschamhaft. Brielachs Mutter war unmoralisch, Onkel Leo war es, der Bäcker wahrscheinlich und die Mutter, die geflüsterte Vorwürfe in der Diele zu hören bekam: »Wo treibst du dich ei Ȭ gentlich immer herum?«
    Es gab Ausnahmen, die auch Brielach gelten ließ: Onkel Albert, der Tischler,
    der unten wohnte, Frau Borussiak und Herr Borussiak, Glum und Bolda, über allen aber stand Frau Borussiak: dunkle, so volle Stimme, die über Brielachs Zimmer so wunderschöne Lieder in den Hof hinaussang.
    Im Dunkeln an Frau Borussiak zu denken, war gut, war tröstlich und gefahrlos: Grün war das Land meiner Kindheit sang sie oft, und wenn sie es sang, sah er nur noch grün; wie ein Filter schob es sich ihm vor die Augen, alles wurde grün, auch jetzt im Bett, im Dunkeln, wenn er an Frau Borussiak
    sah er hinter den geschlossen Lidern. Grün war das Land meiner Kindheit.
    Und das Lied mit dem Jammertal war schön: »Meerstern, ich dich grüße« Ȭ und auch bei »grüße« wurde alles grün. An irgendeinem Punkt schlief er später ein, irgendwo zwischen Frau Borussiaks Stimme und dem Wort, das Brielachs Mutter zum Bäcker gesagt hatte: ein Onkel Ȭ Leo Ȭ Wort, im dunklen, süßduftenden, warmen Keller des Bäckers hingezischtes Wort: ein Wort, dessen Bedeutung mit Brielachs Hilfe ihm klar geworden war: es hatte mit der Vereinigung der Männer mit den Frauen zu tun, hing sehr eng mit dem sechsten Gebot zusammen, war unmoralisch und gab Anlaß, an den Vers zu denken, der ihn sehr beschäftigte: »Wenn Du der Sünden willst gedenken, Herr, wer wird vor Dir bestehen?«
    Vielleicht schlief er auch bei Hopalong Cassidy ein, zünftiger Reiter mit
    zünftigen Abenteuern, ein ganz klein wenig albern, so wie die Gäste, die Mutter immer mitbrachte, albern waren. Jedenfalls war es gut, die Mutter atmen zu hören: Oft war ihr Bett leer, manchmal tagelang hintereinander, und vorwurfsvoll wurde es hingeflüstert in der Diele von der Großmutter zur Mutter: »Wo treibst du dich bloß immer herum?« Keine Antwort der Mutter. Es war ein Risiko, am Morgen wach zu werden. Hatte Albert eine sauberes Hemd und einen Schlips an, wenn er ihn weckte, dann war alles gut: Dann gab es ein richtiges Frühstück in Alberts Zimmer mit viel Zeit, und er brauchte nicht zu hetzen und konnte mit Albert die Schulaufgaben noch einmal durchgehen. War aber Albert noch ungekämmt, im Schlafanzug, mit Falten im Gesicht, dann mußte schnell der heiße Kaffee hineingeschlürft werden, und schnell wurde eine Entschuldigung hingeschrieben: »Sehr geehrter Herr Wiemer, bitte verzeihen Sie, daß der Junge heute wieder zu spät kommt. Seine Mutter mußte verreisen, und ich vergaß, ihn pünktlich zu wecken. Verzeihen Sie bitte. Mit vorzüglicher Hochachtung.«
    Es war schlimm, wenn Mutter Besuch mitbrachte: Albernes Gelächter, das er in Alberts Zimmer hörte, unruhiger Schlaf in Alberts riesigem Bett, und manchmal ging Albert dann gar nicht ins
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher