Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter
Autoren: Heinrich Böl
Vom Netzwerk:
wurde es fünf, und Onkel Albert ver Ȭ
    schlief sich dann morgens, und es war niemand da, der mit ihm frühstückte, bevor er zur Schule musste, Glum und Bolda waren dann schon weg, die Mutter schlief immer bis zehn, und die Großmutter stand nie vor elf auf. Obwohl er sich immer vornahm, wach zu bleiben, schlief er meistens wieder ein, kurz nachdem der Ventilator ausgeschaltet worden war. Aber wenn die Mutter lange las, wurde er ein zweites, ein drittes Mal wach, besonders, wenn Glum vergessen hatte, den Ventilator zu ölen: Dann kreischte er bei den ersten Umdrehungen, krakelte sich mit langsamen Bewegungen in Ge Ȭ schwindigkeiten hinauf, wo er glatter und ohne Geräusch lief, aber von den ersten kreischenden Umdrehungen wurde er sofort wach und sah die Mutter so liegen, wie er sie beim ersten Male gesehen hatte: mit aufgestütztem Arm lag sie da und las, die Zigarette in der linken Hand, und der Wein im Glas war nicht weniger geworden. Manchmal las die Mutter auch in der Bibel, oder er sah das kleine, in braunes Leder gebundene Gebetbuch in ihrer Hand, und aus Gründen, die ihm nicht klar wurden, schämte er sich dann, versuchte einzuschlafen oder hustete, um sich bemerkbar zu machen. Dann war es spät, und alle im Hause schliefen. Die Mutter sprang sofort auf, wenn er hustete, und kam an sein Bett. Sie legte die Hand auf seine Stirn, küßte ihn auf die Wange und fragte leise: »Dir fehlt doch nichts, mein Kleiner?« »Nein, nein«, sagte er dann, ohne die Augen aufzumachen. »Ich mach ȇ sofort das Licht aus.« »Nein, lies nur weiter.«
    »Dir fehlt wirklich nichts? Fieber scheinst du nicht zu haben.« »Nein, mir
    fehlt nichts. Wirklich nicht.« Dann zog sie ihm die Decke hoch bis an den Hals, und er wunderte sich, wie leicht ihre Hand war Ȭ ging an ihr Bett zurück, knipste das Licht aus und ließ im Dunkeln den Ventilator laufen, bis die Luft ganz frisch war, und während der Ventilator lief, sprach sie mit ihm.
    »Willst du nicht doch das Zimmer neben Glum haben?«
    »Nein, laß mich hier.«
    »Oder das Wohnzimmer hier neben, wir könnten es räumen?«
    »Nein, wirklich nicht.«
    »Vielleicht Alberts Zimmer? Albert würde ein anderes nehmen.«
    »Nein.«
    Bis sich plötzlich die Geschwindigkeit des Ventilators vermin Ȭ
    derte, und er wußte dann, daß die Mutter im Dunkeln auf den Knopf
    gedrückt hatte. Noch ein paar kreischende Umdrehungen, und es war ganz still, und er hörte im Dunkeln sehr fern die Züge und ein hartes, knallendes Geräusch, wenn die einzelnen Güterwagen rangiert wurden, und sah vor sich das Schild: Güterbahnhof Ost — dort war er mit Welzkam einmal gewesen. Welzkams Onkel war dort Heizer auf der Lokomotive, die die einzelnen Waggons auf den Rangierhügel zu schieben hatte. »Wir müssen Glum sagen, daß er den Ventilator ölt.«
    »Ich sag ȇ s ihm.«
    »Ja, sag ȇ s ihm, aber jetzt mußt du schlafen. Gute Nacht.«
    »Gute Nacht.«
    Aber er konnte dann nicht schlafen und wußte, daß auch die Mutter nicht schlief, obwohl sie ganz ruhig dalag. Finsternis und Stille, aus der sehr fern und fast unwirklich hin und wieder das Bumsen vom Güterbahnhof Ost kam, und aus der Stille tauchten Worte auf, fielen in ihn hinein, Worte, die ihn beunruhigten: das Wort, das Brielachs Mutter zum Bäcker gesagt hatte, dasselbe Wort, das im Flur des Hauses, wo Brielach wohnte, immer an der Wand stand, und das neue Wort, das Brielach aufgeschnappt hatte und jetzt immer sagte: Unmoralisch. Oft dachte er auch an Gäseler, aber der war so fern, und er spürte weder Angst noch Haß, wenn er an ihn dachte, nur eine Art Belästigung, und er hatte viel mehr Angst vor der Großmutter, die diesen Namen immer wieder in ihn hineinwarf, aus ihm herausholte, in ihn hin Ȭ einwarf, obwohl Glum so heftig den Kopf darüber schüttelte. Später spürte er dann, daß die Mutter eingeschlafen war, er aber konnte immer noch nicht schlafen: Er versuchte das Bild des Vaters aus der Dunkelheit herauszuholen, aber er fand das Bild nicht. Tausende dummer Bilder kamen auf ihn zu, aus Filmen, aus der Illustrierten, aus den Leseheften kamen sie: Blondi, Ho Ȭ palong, Cassidy Ȭ und Donald Duck Ȭ , aber der Vater kam nicht. Brielachs Onkel Leo kam, der Bäcker kam, Grebhake und Wolters kamen, die beiden, die im Gebüsch Unschamhaftes getan hatten: dunkelrote Gesichter, offene Hosenlätze und der bittere Geruch frischen Grüns. War unmoralisch dasselbe wie unschamhaft? Aber nie kam der Vater, ein Mann, der auf den Bildern viel
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher