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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter
Autoren: Heinrich Böl
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zu spät. Jetzt sprach Schurbigel, dann würde Pater Willibrord ihr Leute vorstellen, und es würde jener noch unbekannte Verehrer auftauchen, dessen Blick beharrlich wie das Licht einer Lampe auf ihrem Nacken lag. Das beste war, dahinzudösen und auf diese Weise wenigstens ein wenig Schlaf zu speichern. Immer tat sie das, was sie nicht tun wollte, und es war nicht Ei Ȭ telkeit, die sie dazu trieb, nicht Eitelkeit auf den Ruhm ihres Mannes, der gefallen war, und nicht der Wunsch, so schrecklich interessierte Leute kennenzulernen. Es war das Gefühl zu schwimmen, das sie reizte, dahinzutrudeln, sich absacken zu lassen, wo doch fast alles mehr oder weniger sinnlos war: Stücke aus schlechten Filmen zu sehen und zu träumen, vom Cutter hinausgeworfenes Zeug, unzusammenhängende, schlecht foto Ȭ grafierte Partien mit mittelmäßigen Schauspielern und schlechter Beleuchtung. Verzweifelt kämpfte sie gegen die Müdigkeit, raffte sich auf und hörte Schurbigel zu, was sie seit langem nicht mehr getan hatte. Auch der Blick, der beharrlich auf ihrem Nacken lag, ermüdete sie, weil der Vorsatz, sich nicht umzuwenden, nur mit Anstrengung durchzuhalten war, und sie
    nicht umdrehen, weil sie den Typ kannte, ohne ihn gesehen zu haben.
    Intellektuelle Schürzenjäger waren ihr ein Greuel. Deren von Reflexen und Ressentiments bestimmtes Leben ging meistens nach Leitbildern vor sich, die sie der Literatur entnommen hatten, wobei sie zwischen Sartre und Claudel schwankten. Sie träumten von Hotelzimmern, die Hotelzimmern aus Filmen glichen, wie sie in Spätvorstellungen in besonderen Kinos liefen: Filme mit dämmrigen Lichtern, raffiniertem Dialog, »handlungsarm, aber spannend«, von existentiellem Orgelgetön erfüllt; bleicher Mann über bleiche Frau gebeugt, während die Zigarette Ȭ oh, wirkungsvolle Optik Ȭ mit wilden Rauchstreifen auf der Nachttischkante verqualmt. »Es ist böse, war wir tun, aber wir müssen es tun.« Licht aus, und im gesteigerten Dämmer nur noch die wild qualmende Zigarette auf der Nachttischkante, dann wurde abgeblendet, während das Unabänderliche sich vollzog.
    Je mehr solcher Kavaliere sie kennenlernte, um so mehr liebte sie ihren Mann, und sie hatte, obwohl sie im Rufe einer halben Kokotte stand, in zehn Jahren nicht einmal wirklich mit einem anderen Mann geschlafen. Rai war anders gewesen, seine Komplexe waren so echt gewesen wie seine Naivität.
    Nun ließ sie sich langsam von Schurbigel einlullen und vergaß für eine Weile
    den beharrlichen, ihren Nacken bestrahlenden Blick des Unbekannten. Schurbigel war groß und schwer, und der Grad der Melancholie in seinem Gesicht steigerte sich von Referat zu Referat, und er hielt viele Referate. Mit jedem Referat steigerte sich auch seine Prominenz, steigerte sich sein Körperumfang. Nella hatte immer den Eindruck eines ungeheuer intelligenten, ungeheuer traurigen und sich immer mehr aufblähenden Luftballons, der platzen würde, und nichts würde übrigbleiben als eine Handvoll kon Ȭ zentrierter, übelriechender Trauer.
    Sein Thema war ein Schurbigel Ȭ Thema: Das Verhältnis des geistig Schaffenden zur Kirche und zum Staat in einem technisierten Zeitalter. Seine Stimme war angenehm: ölig Ȭ intelligent, schwingend von einer geheimen Sensibilität, voll von unendlicher Trauer. Er war dreiundvierzig Jahre alt, hatte viele Anhänger, nur wenige Feinde, aber diese Feinde hatten es fertiggebracht, Schurbigels Doktorarbeit aus den Tiefen einer obskuren mitteldeutschen Universitätsbibliothek an Land zu ziehen, und diese
    Dissertation war 1934 geschrieben worden und hatte den Titel: Unser Führer in der modernen Lyrik. Deshalb begann Schurbigel jedes Referat mit einigen Bemerkungen über publizistische Perfidie, ausgeübt von jugendlichen Schreihälsen, sektiererischen Schwarzsehern, flagellantischen Häretikern, unfähig, die Konversion eines geistig gereiften Menschen zu begreifen. Doch auch seinen Feinden gegenüber blieb er im Tonfall freundlich, und er wandte eine Waffe gegen sie an, die sie zur Raserei brachte, weil sie machtlos dagegen waren: Schurbigel übte Verzeihung; er verzieh allen alles. Seine Gesten während der Reden entsprachen denen eines freundlichen, nur auf das Wohl des Kunden bedachten Friseurs: Während er sprach, schien Schurbigel imaginären Freunden und Feinden heiße Kompressen aufzulegen, sie mit wohlriechenden, beruhigenden Essenzen zu besprengen, er massierte ihre Kopfhaut, er fächelte ihnen Luft zu, kühlte sie ausgiebig,
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