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Hauptsache nichts mit Menschen (German Edition)

Hauptsache nichts mit Menschen (German Edition)

Titel: Hauptsache nichts mit Menschen (German Edition)
Autoren: Paul Bokowski
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Dame herangewandelt kommt. Mit fragender Stimme wendet sie sich an die Kassiererin: »Ham Se keene Glückwunschkarten zur goldenen Hochzeit mehr?«
    Die Kassiererin antwortet ohne aufzuschauen: »Wenn da drüben nichts steht, haben wir wohl keine.«
    Nach einem Moment wirft sie hinterher: »Kommt ja auch nicht so häufig vor.«
    »Nee! Heutzutage nich mehr«, entgegnet die alte Dame und schaut betrübt zu Boden
.
    »Haben Sie mal bei den Karten zur Silbernen geschaut?«
    »Ja, da sind aba och keene mehr.«
    »Na, warten Sie mal«, sagt die Kassiererin und brüllt zu einer Kollegin, quer durch die gesamte Schreibwarenabteilung: »Monika! Haben wir noch Glückwunschkarten zur goldenen Hochzeit?« Laut schallt es zurück: »Schau mal bei den Trauerkarten. Wir ordnen die immer chronologisch.«

POLNISCHES GEPÄCK
    Ich hatte immer sehr gehofft, nicht der Einzige zu sein. Ich bin acht Jahre alt und liege zusammengekauert im Kofferraum eines alten Opel Kadett Baujahr ’86. Durch die Rückbank dringen dumpfe Stimmen an mein Ohr. Eine gespenstische Vorfreude liegt in ihnen, verstörendes Gelächter. Eine Stimmung, die meinen kleinen Körper zu einem schwachen Haufen Haut und Knochen zusammenfallen lässt. Der ganze Raum vibriert. Jedes Mal, wenn der Straßenbelag sich ändert, spüre ich es. Dann scheuern mein Gesicht, meine Beine und Ärmchen an den borstigen Kunststofffasern unter mir. Der Geruch von Hartgummi und Plastik macht die Enge unerträglich.
    Meine Eltern waren stets darauf bedacht, die Misshandlungen, die sie mir antaten, auf Fotopapier festzuhalten. Zu jeder düsteren Erinnerung, die sich in mein Unterbewusstsein eingebrannt hat, existiert ein fotografisches Gegenstück. Die Verstörung, der Unwille, die Furcht – konserviert auf glänzendem Colorpapier. Wer so etwas erlebt hat, der wird nicht wieder ganz. Wer so etwas erlebt hat, der treibt ruhelos umher. Menschen wie mir ist das Rasten der größte Feind geworden. Denn mit jedem Stillstand, jedem Müßiggang kommt die Erinnerung und nichts wiegt schwerer als diese Substanz in unseren Köpfen.
    Ein leises Wimmern dringt aus der anderen Ecke des Kofferraumes zu mir herüber.
    Der kleine Sven Halupczok hat sich zusammengerollt gegen das Seitenfach gepresst. Starr vor Angst lässt er sich vom Rauschen des rechten Hinterrades überfluten. Jedes Mal, wenn wir in der Dunkelheit aneinanderstoßen, zuckt er jaulend zusammen. Ich hatte immer sehr gehofft, schon fast darum gebeten, nicht der Einzige zu sein, aber jetzt tut er mir leid. Das Gelächter hinter der Rückbank klingt wie Gebell, das uns verhöhnt. Das Deutsche ist eine fürchterliche Sprache, denke ich, besonders, wenn sie von Polen gesprochen wird. Der Tod ist kein Meister aus Deutschland, er ist ein Spätaussiedler aus Oberschlesien. Immer wieder winselt es im Kofferraum zu mir herüber. »Kofferraum« – was für ein fürchterlich deutsches Wort.
    Kinder, die so etwas erleben mussten, versuchen, einen Weg zu finden, damit fertigzuwerden. Sie versuchen, die Erinnerungen und die Bilder in ihrem Kopf zu übertünchen. Ich habe Zeichentrick geschaut. Unglaublich viel Zeichentrick geschaut. In jeder freien Minute habe ich die flackernden Bilder in meine Augen strömen lassen, in meine trüben trockenen Augen. Wenn du niemals blinzelst, habe ich gedacht, dann wird es besser wirken. »Nicht so nah ran«, hat man mich angebrüllt. Kinder, die so nah vor dem Fernseher sitzen, sitzen dort, weil sie dort sitzen möchten. Kinder, die so nah vor dem Fernseher sitzen, die möchten allein gelassen werden. Kinder, die so nah vor dem Fernseher sitzen, die sitzen dort, weil sie vergessen wollen.
    Meine Eltern sind sehr stolz auf diese Bilder meiner Kindheit, auf diese Grausamkeiten, die sie für die Ewigkeit ihres Lebens festhalten konnten. Sie haben extra ein ganzes Zimmer damit eingerichtet. Einen eigenen kleinen Raum im Keller ihrer Doppelhaushälfte – einen Hobbyraum. »Hobbyraum« – was für ein fürchterlich deutsches Wort.
    Das schlimmste Bild in diesem Hobbyraum ist nicht das mit Stefanie Hertel, mit Stefan Mross, Daliah Lavi oder Patrick Lindner. Das schlimmste Bild in diesem Hobbyraum ist das mit den Wildecker Herzbuben. In meinem Kinderanzug haben sie mich zwischen sich genommen. Ihre adipösen, in Trachten gehüllten Körper umschließen meine kleinen Schultern. Meine Arme versinken in einer heißen schwitzigen Masse aus menschlichem Überschuss. Mein kleiner schwacher Kopf sitzt starr zwischen zwei
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