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Hansetochter

Hansetochter

Titel: Hansetochter
Autoren: Sabine Weiß
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dem, was sie herausgefunden hatte, würde sie vermutlich mehr als einen bekannten Mann dieser Stadt gegen sich aufbringen.
    Da glaubte sie jemanden hinter sich zu hören und bog schnell in die nächste Gasse ab. Henrike begann zu laufen. Die Schritte in ihrem Rücken wurden ebenfalls schneller. Wurde sie verfolgt? Hatte es jemand auf sie abgesehen? Ihr Herz schlug wie eine Trommel. Ihr Verfolger war jetzt ganz nah, sie starrte nach vorn, rannte weiter. In der Nähe rumorten Händler; wenn sie erst unter Menschen war, wäre sie in Sicherheit. Dann würde sie überlegen, wie sie ihr Wissen am besten nutzbar machen könnte, versuchte sie sich selbst gut zuzureden. Sie würde ihrem Bruder Hilfe schicken und mit Adrian sprechen. Ihm galt ihr letzter Gedanke, als ein Schlag ihren Kopf zu spalten drohte.

1
    Lübeck, Oktober 1375
    I hr Haus befand sich in der Alfstraße, einer der ältesten Straßen der Stadt. Als ihr Vater vor einigen Jahren den Auftrag erteilt hatte, das Giebelhaus aus Backstein umzubauen, hatte der Baumeister im Kellergewölbe Pfosten entdeckt, die wohl, wie er meinte, noch aus der Zeit Heinrichs des Löwen stammten, also bald zwei Jahrhunderte alt waren. Jetzt war davon nichts mehr zu sehen, denn Konrad Vresdorp hatte das Haus von den Dachtraufen bis zum Fundament erneuern lassen. Mit seinen aufwendigen Wechselschichten aus glasierten und unglasierten Ziegeln, den Treppengiebeln, den kunstvollen Beischlagwangen mit einklappbaren Bänken am Eingang und dem Tor, das die Größe einer Kirchenpforte hatte, zeigte es schon von Weitem, dass hier ein wohlhabender Kaufmann wohnte. Mancher befreundete Händler ließ sich erst einmal das Gebäude mit seinen Luken und Zwischenböden, den geräumigen Speichern und dem praktischen Lastenaufzug zeigen, bevor er in der reich geschmückten Diele oder im Kaufkeller seine Geschäfte mit dem Vater machte.
    Konrad Vresdorps Schreibkammer war das Herzstück des Hauses. Die Dornse, wie man sie nannte, wurde von der benachbarten Küche mitbeheizt. Doch die anderen Bewohner hatten es ebenfalls behaglich. An das Haupthaus grenzte ein wohleingerichteter Flügelanbau, in dem die Familie und das Gesinde lebte. Im Hinterhof befanden sich Backofen, Ziehbrunnen, Schuppen, der Stall für das Vieh und das heimliche Gemach. Hohe Glintmauern grenzten den Garten zum Nachbargrundstück ab.
    Die Alfstraße war wegen ihrer guten Lage beliebt. Wenn manaus der Haustür trat, sah man die auf einem Hügel aufragende Marienkirche, daneben befanden sich Rathaus und Marktplatz. Wandte man sich Richtung Fluss, stand man bereits nach wenigen Schritten vor der Stadtmauer, an die der Hafen grenzte. Die sehr hohe und etliche Fuß breite Verteidigungsanlage mit ihrem Wehrgang und den zahlreichen Türmen war ein steinerner Beweis für die Bedeutung und den Reichtum der Stadt.
    Lübeck stand in dem Ruf, beinahe uneinnehmbar zu sein. Wie eine Halbinsel war die Stadt von den Flüssen Trave und Wakenitz eingefasst. Dennoch waren die Bewohner alles andere als abgeschnitten. Lübeck lag, einem Kleeblatt gleich, zwischen den Landschaften Holsteins, Mecklenburgs und Sachsens. An den vier Haupttoren und den zahlreichen kleinen Pforten herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. An diesem Ort kreuzten sich die Handelsstraßen zwischen London und Nowgorod, zwischen Italien und Norwegen. Nach wenigen Windungen mündete die Trave in die Weite der Ostsee.
    Henrike lehnte ihren Oberkörper aus der geöffneten Dachluke. Sie ließ ihren Blick noch einmal über die wippenden Mastspitzen hinweg in die sanfte Landschaft vor der Stadt schweifen, die der Herbst in vielerlei Rot- und Gelbtönen getupft hatte, und kehrte dann in die Mitte des Speichers zurück.
    »Verehrter Herr Kaufmann, welche Waren habt Ihr anzubieten?«, fragte sie, strich über das grobe Webmuster der prall gefüllten Jutesäcke und versuchte zu ertasten, was darin war. Konnten es köstliche Mandeln sein? Nein, die waren größer. Safran? Wurde in kleineren Säcken geliefert. Reis? Sie schnupperte daran   – derb-süßlicher Geruch zog in ihre Nase. Kümmel also. Sie öffnete einen Sack und fuhr mit den Fingern durch die spitzen Körner. Zufrieden sah sie auf. Das Bild, das sich ihr bot, brachte sie zum Lachen: Ihrem Gegenüber war die Samtmütze über die Augen gerutscht. »Kaufmann, seid Ihr etwa eingeschlafen?«
    Der Angesprochene schob die edle Mütze zurück. Zum Vorschein kam das Antlitz eines zwölfjährigen Jungen, dessen kindliche Pausbacken einen
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