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Hansetochter

Hansetochter

Titel: Hansetochter
Autoren: Sabine Weiß
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begann zu weinen. »Bitte, ich bitte euch.«
    Simon wich zurück, die Arme abwehrend verschränkt. Henrike fühlte sich hilflos. Wenn die Bettlerin nicht von ihm abließ, würden die Büttel auf sie aufmerksam werden und sie mit Schlägen vertreiben, weil sie anständige Bürgerskinder belästigte. Daswürde ihre Lage nur noch verschlimmern. Henrike löste rasch das Tuch aus feinem Stoff von ihrem Hals und hielt es der Frau hin.
    »Hier, nehmt es und geht, bevor die Wachen kommen«, sagte sie und zog Simon mit sich, das bestickte Hemd, das sie unter ihrem Kleid trug, höher über ihre Brust ziehend.
    »Das darfst du nicht«, meinte ihr Bruder entrüstet und machte sich los.
    Ja, sie durfte es nicht, aber was hätte sie tun sollen? Es war ein milder Herbst, doch auch wenn sich am Tage die Sonne oft noch zeigte, waren ihr neulich beim Gottesdienst in der Marienkirche Finger und Zehen schon beinahe steifgefroren. Wenn die beiden auf der Gasse übernachten würden, wäre es bald nicht nur um das Kind, sondern auch um die Bettlerin geschehen. Mit dem Geld, das die Frau für das Tuch bekam, könnte sie sich vielleicht ein Lager für einige Nächte erkaufen.
    »Denkst du wirklich, Vater fällt es auf?«, verteidigte sie sich. Ihre Kleidung war Konrad Vresdorp gleichgültig. Solange sie so ehrbar und ansehnlich angezogen war, wie es ihrem Stand entsprach, könnte sie auch bunt gescheckt herumlaufen, ohne dass er es bemerken würde.
    Sie waren in den Hafenbezirk eingetreten, und die Szenerie nahm sie mit einem Schlag gefangen. Henrike ließ die Hand sinken, ihr Ausschnitt kümmerte sie auf einmal nicht mehr. Auf dem Fluss tanzte ein Wald aus Masten im Wind. Behäbig schwankten die Koggen, diese gewaltigen Schiffe mit ihren dicken Bäuchen, als wären sie erschöpft von der Last, die sie weite Strecken getragen hatten. Dabei waren dies nicht einmal die größten Schiffe, die Lübeck anfuhren. Letztere wurden in den tieferen Gewässern vor der Stadt entladen, weil der Hafen zu seicht war. Kleine Boote umringten die Koggen wie Fliegen ein Schwein. Rufe in verschiedenen Sprachen mischten sich durcheinander. Zahlen flogen von einem Mann zum anderen.Kaufleute verhandelten, schlugen sich auf die Schultern, schüttelten sich die Hände. Eine Möwe stieß pfeilschnell vor den Geschwistern hinunter und pickte einen Fischschwanz vom Boden. Die vielfältigen Gerüche ließen Henrikes Kopf schwirren. Es duftete und stank zugleich. Pferde schnauften vor den Karren, die gerade beladen wurden, und ließen ihren dampfenden Kot hinter sich fallen. Am Rande der Stadtmauer hockten Fischer und flickten ihre Netze. Eine Windböe trieb von der gegenüberliegenden Werft den durchdringenden Gestank flüssigen Teeres zu ihnen, mit denen die Rümpfe der Schiffe abgedichtet wurden. Ein Mann, ein hoch verschnürtes Paket in den Armen, rempelte Henrike an.
    »Mach dich weg da, Borgersche! Vrowen personen haben hier nichts zu suchen! Hier wird gearbeitet!«, schimpfte er lauthals und sah erst dann, wen er getroffen hatte. Ein Pfiff entfuhr seinen Lippen. »Wohin des Weges, Schöne? Willst du was? Soll ich dir zeigen, was ich zu bieten habe?« Er starrte in ihren Ausschnitt, der ihr jetzt besonders nackt erschien.
    Henrike raffte ihren glockenförmigen Mantelumhang, die Heuke, vor der Brust zusammen. Simon stellte sich vor seine Schwester. Der Mann musterte ihn mit einem schiefen Grinsen. Das Paket hielt er weiter, als habe es gar kein Gewicht.
    »Was willst du Knirps denn?«, fragte er höhnisch.
    »Etwas mehr Respekt. Wir gehören zur Kaufmannsfamilie Vresdorp«, verkündete Simon, doch seine Stimme bebte. Am Hafen herrschte ein rauer Ton, schnell gab ein Wort das andere, jemandem rutschte die Hand aus, und schon war eine Schlägerei im Gange. Der Träger lachte schallend.
    »Na, wenn das so ist. Dann schwirrt mal ab, ihr herteleven kyndere«, meinte er gönnerhaft und ging laut pfeifend davon. Simon wirkte einen Moment, als wollte er hinterherlaufen und ihn anspringen, um Respekt einzufordern, doch dann folgte er Henrike zu ihrem Vater.
    Konrad Vresdorp stand mit zwei Männern vor einer Reihe großer Fässer. Eines von ihnen hatte ein Knecht gerade angestochen und mit einem Zapfhahn versehen. Einer der Männer führte eine Kelle zum Mund. Henrike fragte sich, was sie da taten. Die Waren sollten umgeschlagen werden, da hatte man doch keine Zeit für einen Trunk, oder doch?
    Ihr Vater begrüßte sie mit einem breiten Lächeln. Er war ein hochgewachsener,
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