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Hansetochter

Hansetochter

Titel: Hansetochter
Autoren: Sabine Weiß
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starken Kontrast zu seiner Kleidung bildeten, die jedem Erwachsenen gut zu Gesicht gestanden hätte.
    Ihr Bruder Simon kaute konzentriert auf einer Haarsträhne. Seine Haare waren es vor allem, die erahnen ließen, dass die Geschwister von unterschiedlichen Müttern stammten. Simon hatte einen dunklen Schopf, ihre langen Locken glänzten hingegen in einem warmen Dunkelblond. Henrike fiel auf, dass ihr Bruder in letzter Zeit ein gutes Stück in die Höhe geschossen sein musste. Er war nie rundlich gewesen, aber jetzt sahen seine eng umstrumpften Beine dünn und staksig wie die eines Storches aus. Wie gut, dass er trotz seiner schwache Konstitution einen starken Willen besaß. Sein zarter Körper war schon von manchem Fieber auf das Lager geworfen worden, doch jedes Mal hatte er die Krankheit besiegt. Jetzt lächelte ihr Bruder aufgekratzt, und auf seinen Wangen zeigten sich die Andeutungen der Grübchen, die Henrike so sehr mochte. Sie nahm sich vor, Simon noch heute so zum Lachen zu bringen, dass die Grübchen tief wurden und die Wangen zu Apfelbäckchen aufwarfen. Er schritt, um ein würdevolles Aussehen bemüht, zu den Fässern, deren Stapel beinahe bis an die hohe Decke des Speichers reichten.
    »Wir haben diese   ... hübschen Felle   ... dieses Pelzwerk   ... bekommen«, sagte er um Worte ringend und zog ein Eichhörnchenfell hervor. »Ich kann Euch einen guten Preis machen   ... verehrte Dame.«
    Henrike prustete. Es war zu komisch   – ihr kleiner Bruder als ehrenwerter Kaufmann, sie als feine Dame. Sie liebte dieses Spiel, wie sie es überhaupt liebte, im Warenhaus des Vaters herumzustöbern. Die duftenden Gewürze aus dem Orient, kostbare Gold- und Silberwaren, Perlen und Bernstein und vor allem die Stoffe, manche fein gewebt, manche grob, in allen Farben des Regenbogens schimmernd! Grüne Atlasseide aus Venedig, goldene Tücher von luccanischem Gold, sarazenische Seiden   – Namen, die ihre Sehnsucht weckten. Wie gern würde sie mit ihrem Vater einmal nach Venedig reisen, den Seidenwebern bei ihrer Kunst zusehen, Gewürze und Spezereien in der Lagunenstadt kaufen. Oder der Pfeffer! Den weiten Weg von Indien nahm er über das arabische Meer, er wurde in Alexandria weitergehandelt und gelangte schließlich über das Mittelmeer und Venedig zu ihnen. Wie der Faden einer Stickarbeit einen Punkt mit dem anderen verband, so zogen sich die Handelsnetze durch die Länder, verbanden entfernte Orte, brachten sie zum Träumen. Oft stellte Henrike sich vor, wie der Weg der Waren weiterging. War dieser Damast für das Gewand einer Gräfin? Würde man mit dem Safran ein Hochzeitsmahl würzen? Welcher Kaufmann würde in Schuhen aus diesem Leder Weg um Weg zurücklegen?
    Simon brauste auf. »Du darfst mich nicht auslachen! Nicht mehr lange, und ich bin ein richtiger Kaufmann!«, schimpfte er. Jetzt schmollte sie, für die Dauer eines Wimpernschlags zumindest.
    »Auch wenn du ein richtiger Kaufmann bist, bleibst du doch mein kleiner Bruder«, entgegnete sie, schlenderte hoheitsvoll und schwenkte ihr Kleid, als habe es eine Schleppe. »Ich brauche Hermelin für einen neuen Prunkmantel. Habt Ihr auch das, guter Mann?«
    Simon überlegte. »Hermelin, sicher. Vater hat ihn auf den Listen vermerkt. Einunddreißig verschiedene Sorten Pelze haben wir im Moment am Lager. Die letzten kamen auf der Kogge aus Reval. Prächtiges Schiff. Aber wo   ...«, er sah sich suchend um, nahm die Markierungen in Augenschein.
    Henrike lächelte, diese Antwort war typisch für Simon. Er machte manchmal einen verträumten Eindruck, hatte aber ein gutes Gedächtnis. Vor allem für Zahlen hatte er einen ausgeprägten Sinn. Dafür tat er sich schwer damit, eine Sorte von der anderen zu unterscheiden, ob es nun Pelze oder Stoffe waren, er interessierte sich einfach nicht genügend dafür. Bei Schiffenhingegen, Schwertern und Rüstungen geriet er ins Schwärmen. Auch jetzt war er in Gedanken woanders. Sie schlich sich an dem großen Windenrad vorbei, das den Dachboden durchschnitt und kitzelte ihren Bruder in den Seiten, wo sie die Rippen fühlen konnte. Simon giekste und griff nach ihr. Henrike konnte sich ihm entziehen, lief lachend davon. Schon spielten sie Fangen über Pakete und Kisten hinweg, zwischen Fässern und Stützbalken. Da gebot ein Ruf ihnen Einhalt.
    »Simon! Henrike! Der Vater braucht euch! Die Kogge ist eingelaufen!« Jost, des Vaters wichtigster Gehilfe, stand am Aufgang. Er war ein hochgewachsener, hagerer Mann Mitte zwanzig
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