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Halloween

Halloween

Titel: Halloween
Autoren: Stewart O'Nan
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seinem Alter mit einem Bauklotz geworfen, und da hat seine Nase geblutet. Kyle kann sich nicht mehr an ihren Namen erinnern. Seine Mutter heißt Nancy, Nancy Sorenson, 675 - 0257. (Wir haben sie besucht, sie stand an der Ampel in der Country Club Road, gedankenverloren, das Radio dudelte ungehört, bis sie es seelenruhig ausschaltete. Nachts hört sie Kyles Sprungfedern quietschen; morgens setzt sie ihn in den Bus, wäscht seine Laken und steht dann im bleichen Licht des Kellerfenstersund denkt, dass sie sich nicht ewig um ihn kümmern kann, dass es sie allmählich zugrunde richtet. Schon zugrunde gerichtet hat.)
    «He, Kumpel.»
    «Was?» Kyle sieht Tim an und zieht ein Gesicht, als hätte er irgendwas verpfuscht.
    «Hast du nicht was vergessen?»
    Erst als Tim den Finger ausstreckt, begreift Kyle. Wer hat den Wagen da stehen lassen, war er das? Er macht so blödes Zeug und kann sich dann nicht mehr dran erinnern. Sie müssen alle Wagen holen, damit sie nach Hause fahren können.
    Tim beobachtet, wie Kyle bedächtig über den Parkplatz geht, in perfekter Haltung, starr wie ein Roboter, ein Nebeneffekt des Krankenhauses (sie haben ihm das Laufen in einem Schwimmbad beigebracht, wo er sich an dem am Beckenrand angebrachten Geländer festhielt, voller Angst, obwohl seine Füße auf dem Boden standen). Der Bürstenhaarschnitt ist die Idee seiner Eltern; Tim wartet noch immer darauf, dass Kyles Haare wieder wachsen. Der Kyle, den er kannte, wollte sich Koteletten wachsen lassen und hätte um keinen Preis eine Stop’n’Shop-Mütze getragen. Und er hat zugenommen, klaut ständig Schokoriegel (der Geschäftsführer hat Tim aufgefordert, auf ihn aufzupassen, das heißt, dass Tim die Schokoriegel bezahlt; wozu braucht er noch Geld? «Danke, Tim», sagt Kyle mit ausdruckslosem Gesicht). Er trägt jetzt eine Brille, befestigt mit einem schwarzen Gummiband, und hat eine Zahnprothese. Sein Gesicht ist platt und schief. Weder seine Nase noch seine Wangen sind echt, auch seine Stirn nicht; nur sein Kinn und seine Hände sind unverändert. Er ist jemand anders oder
etwas anderes
geworden, sogar seine Kleider sind eine Maskerade. Wenn Tim ihn nach der Schule abholt, hat Kyles Mutter ihm schon die Uniform angezogen, jeden Tag dieselbe. Sie packt sein Abendessen in eine schwarze Lunchbox, sein Name mit Leuchtstift auf ein Stück Kreppband geschrieben (manchmal fährt Tim in der Pause mit ihm zum Autoschaltervon McDonald’s und kauft ihm etwas, stopft das Erdnussbuttersandwich mit Marmelade und die Selleriestangen in den Abfalleimer, sagt Kyle, dass er nichts verraten soll, und tupft dann mit einer Serviette an dem Ketchupfleck auf seinem Hemd). Sie behandelt Kyle wie ein kleines Kind, aber – und es hat Monate gedauert, bis Tim das zugeben konnte – Kyle ist auch ein kleines Kind. Er mag die Nudelsuppe mit Huhn in seiner Thermosflasche, er mag seine Tüte Double Stuf Oreos. Wenn Tim ihm beim Essen zusieht, wünscht er, er könnte sich für ihn freuen, statt zu denken, dass er besser gestorben wäre. (Das denkt er jedes Mal, wenn er ihn sieht, aber eigentlich denkt er dabei an sich. Manchmal glaubt er, es wäre einfacher, Kyle zu sein.
    Toe findet, Tim ist egoistisch. Ich weiß nicht. Danielle verbringt mehr Zeit mit ihm als andere, aber sie will nicht drüber reden. Sie glaubt immer noch, wir können ihn aufhalten.
    Warum?, fragt Toe.)
    Kyle schiebt den letzten Wagen rasselnd über den Parkplatz, während Tim auf ihn wartet und den überwältigenden Himmel bestaunt, an dem sich die Wolken vor den Vollmond schieben. Auf der Heimfahrt dürfte es kalt werden, das ist der einzige Nachteil an dem Jeep, auch mit festem Dach. Danielle hat sich beim Knutschen immer über die Heizung beklagt, und jetzt sieht er unwillkürlich ihr Gesicht vor sich, sieht, wie sie sich mit feuchten Gesichtern über die Handbremse hinweg küssen, ihre Bluse offen, seine Finger damit beschäftigt, ihren BH hochzuschieben.
    (O Baby!, sagt Toe.
    Halt die Klappe, sagen wir beide.)
    Die Erinnerung ermüdet ihn, und er senkt den Kopf, um sie abzuschütteln. Er weiß noch, dass Danielle in jener Nacht auf seinem Schoß gesessen hat, dass er das Ohr an ihren Rücken legte, um ihren Herzschlag zu hören. Aber die Musik und der Wind draußen waren zu laut.
    Hinter Kyle biegt an der Ampel ein Wagen auf den Parkplatz– zu spät, sie haben offiziell geschlossen, die Türautomatik ist ausgeschaltet. Diesen Fehler begehen die Leute ständig, weil das Schild an ist und die
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