Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hades und das zwoelfte Maedchen

Hades und das zwoelfte Maedchen

Titel: Hades und das zwoelfte Maedchen
Autoren: Aimée Carter
Vom Netzwerk:
Blick lange genug von dem leblosen Körper auf dem Bett los, um sie anzusehen. Diana stand an der Tür, sein Fels in der Brandung im tosenden Sturm seiner Existenz. Doch nicht einmal ihre Gegenwart half ihm, Ruhe zu bewahren.
    „Ertrunken“, sagte Henry, als er sich wieder der Leiche zuwandte. „Ich habe sie heute Morgen gefunden. Sie trieb im Fluss.“
    Er hörte nicht, wie Diana sich bewegte, doch im nächsten Moment spürte er ihre Hand auf der Schulter. „Und wir wissen immer noch nicht …?“
    „Nein.“ Sein Ton war schärfer als beabsichtigt, und er zwang sich, ruhiger zu sprechen. „Keine Zeugen, keine Fußspuren, kein irgendwie gearteter Hinweis darauf, dass sie nicht einfach in den Fluss gesprungen ist, weil sie es so wollte.“
    „Vielleicht wollte sie es ja“, sagte Diana. „Vielleicht hat sie Panik bekommen. Vielleicht war es auch ein Unfall.“
    „Vielleicht hat ihr das aber auch jemand angetan.“ Ruckartig löste er sich von ihr, ging auf und ab, versuchte, den größtmöglichen Abstand zwischen sich und die Leiche zu bringen. Bethany hatte er bei Weitem nicht so lange gekannt wie Ingrid, und trotzdem wand sich der Schmerz durch sein Innerstes und erstickte dort jeden Lebensfunken. „Elf Mädchen in achtzig Jahren. Versuch nicht, mir zu erzählen, das hier wäre ein Unfall gewesen.“
    Sie seufzte und strich mit den Fingerspitzen über die bleiche Wange des Mädchens. „Mit dieser hier waren wir so dicht dran, nicht wahr?“
    „Bethany“, fuhr Henry sie an. „Ihr Name war Bethany, und sie war dreiundzwanzig Jahre alt. Meinetwegen wird sie niemals vierundzwanzig werden.“
    „Wäre sie die eine gewesen, wäre sie es ebenso wenig geworden.“
    In ihm schäumte die Wut und drohte hervorzubrechen, doch als er Diana ansah und das Mitgefühl in ihrem Blick erkannte, verging sein Zorn. „Sie hätte es schaffen sollen“, sagte er gepresst. „Sie hätte leben sollen. Ich dachte …“
    „Das dachten wir alle.“
    Henry sank auf einen Stuhl, und sofort war sie an seiner Seite, strich ihm in einer mütterlichen Geste über den Rücken. Verzweifelt fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar, die Schultern gebeugt von der vertrauten Last des Kummers. Wie viel sollte er noch ertragen, bevor sie ihn endlich gehen ließen?
    „Es ist immer noch Zeit.“ Dianas hoffnungsvoller Ton versetzte ihm einen tiefen Stich, schmerzhafter als alles andere, was an diesem Morgen geschehen war. „Wir haben noch Jahrzehnte …“
    „Ich bin fertig.“
    Seine Worte schienen durch den Raum zu hallen, während sie neben ihm erstarrte, ihr Atem plötzlich rau und unregelmäßig. In den Sekunden, die sie brauchte, um eine Erwiderung zu finden, dachte er daran, es zurückzunehmen. Zu versprechen, dass er es noch einmal versuchen würde, wie schon so oft. Doch er konnte nicht. Zu viele waren schon gestorben, und sie wusste es. Nach jedem Tod hatte er den Kampf aufgegeben, mit jeder Seele, die er in die Unterwelt hatte geleiten müssen, war sein Durst nach Gerechtigkeit größer geworden, doch diesmal war es anders. Diesmal meinte er es ernst.
    „Henry, bitte“, flüsterte sie. „Es bleiben noch zwanzig Jahre. Du kannst nicht aufgeben.“
    „Es wird keinen Unterschied machen.“
    Sie kniete sich vor ihn und zog seine Hände von seinem Gesicht. Zwang ihn, sie anzusehen, ihre Furcht zu erkennen. „Du hast mir ein Jahrhundert versprochen, und du wirst mir ein Jahrhundert geben , hast du verstanden?“
    „Ich werde nicht noch ein Mädchen meinetwegen sterben lassen.“
    „Und ich werde dich nicht vergehen lassen, nicht so. Nicht wenn ich dazu irgendwas zu sagen habe.“
    Verbittert blickte er sie an. „Und was willst du tun? Noch ein Mädchen finden, das dazu bereit ist? Jedes Jahr eine neue Kandidatin aufs Anwesen bringen, bis eine besteht? Bis es eine über Weihnachten hinaus schafft?“
    „Wenn ich muss.“ Sie verengte die Augen, und Entschlossenheit ging in Wellen von ihr aus. „Es gibt noch eine andere Möglichkeit.“
    Er wandte den Blick ab. „Ich habe schon Nein gesagt. Darüber werden wir nicht weiter diskutieren.“
    „Und ich werde dich nicht kampflos gehen lassen“, sagte sie. „Niemand könnte dich je ersetzen, ganz egal, was der Rat dazu sagt – und ich liebe dich viel zu sehr, um dich aufzugeben. Du lässt mir keine andere Wahl.“
    „Das würdest du nicht tun.“
    Sie schwieg.
    Wütend stand er auf, schob heftig den Stuhl beiseite und riss seine Hand aus ihrer. „Das würdest du einem Kind
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher