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Hacken

Hacken

Titel: Hacken
Autoren: Christoph Braun
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deutschsprachigen Übersetzung mag der Titel noch schiere Idylle verheißen. Das Original ist jedoch betitelt mit
The complete book of self-sufficiency,
also »Das vollständige Buch der Selbstversorgung«. Seymour schildert, wie er seine Rinder hält, seine eigene Butter herstellt oder Zäune baut.
     
    »Das war die Bibel zu jener Zeit«, sagt Markus vom Lindenhof und streicht sich durch seinen dunkelblonden Bart. Es ist schwer einzuschätzen, wie alt er ist. Es gibt auch keinen Grund, ihn zu fragen. Markus strahlt eine unerschütterliche Ruhe aus und ist dennoch die ganze Zeit am Machen. Er ist der älteste der Bauern auf dem Lindenhof und vor ungefähr zwanzig Jahren aus der Schwäbischen Alb gekommen, wo er bereits eine Rinderherde hegte. Jetzt fährt er tagsüber Traktor. Morgens und abends füttert er die Rinder, dazwischen repariert er Maschinen, Gebäude, die Heizanlage. Als ob ihm das schon genügte! Der Lindenhof ist ein Bioland-Demonstrationsbetrieb. Schulklassen drängen sich in die Backstube und kneten Brotlaibe. Gruppen aus den umliegenden Kindergärten lassen sich durch die Gärtnerei führen, die ein paar Kilometer weiter im Dorf Apelnstedt liegt. So spiegelt sich in der Geschichte des Lindenhofs die zunehmende Popularisierung der ökologischen Landwirtschaft und ihrer Lebensmittel.
     
    Vor dreißig Jahren gab es noch kein
utopia.de
: Vor dreißig Jahren zog eine Gruppe Autodidakten ins Dörfchen ein. Lediglich Norbert kam aus einer Familie von Bauersleuten und hatte grundlegende Erfahrungen mit der Landwirtschaft. Freaks! Es hagelte Spott und Aggressionen. Nicht nur die Ur-Dörfler machten sich lustig, schließlich fanden in den 1970er-Jahren all die Zersplitterungen jener Generation statt, die zehn Jahre zuvor gegen die Autorität im Land aufgestanden war. Nach Eilum zum Beispiel zog es nicht nur die Ökos. Auch Haschrebellen mit Leidenschaft für die Bildenden Künste gründeten Wohngemeinschaften zwischen Elm und Asse. Stylemäßig gerade auf dem Weg vom gepflegten Mittellanghaar der sozialen Bewegungen zu den scharfen Kanten des New Wave, passte die Orientierung hin zum Wollpullover auch den Exegeten der neuen Künstlichkeit nicht.
     
    Mit Hilfe der eigenen Ideale, dank Durchhaltevermögen, diplomatischem Geschick und der Unterstützung durch Seymours Bibel kam das Bio-Start-up allmählich in Tritt. Gegen alle Widerstände und mit Hilfe einer Stadt. Denn die Leute vom Lindenhof fanden im Laufe der 1980er-Jahre eine Insel im vorherrschenden Desinteresse an Ökogemüse: Berlin-West. An den Freitagabenden wurden Karotten und Kartoffeln geputzt und eingepackt. So ziemlich alles an Gemüse, was die Woche überhaupt hergegeben hatte. Die Mengen erlauben nur eine Ration Schlaf von zwei, drei Stunden. Um 3 Uhr morgens fuhr der Brokkoli-Bomber los. Über das 30 Kilometer entfernte Helmstedt ging es über die Transitautobahndirekt hinein nach Berlin-Schöneberg. »Wir wurden jeden Samstag alles los, was wir geerntet hatten«, erinnert sich Norbert an die ersten florierenden Lindenhof-Jahre.
     
    Er hatte zur Frühbesetzung des Hofes gehört. Etwas getrübt ist der Optimismus dieser Zeit durch enormen Arbeitsaufwand. »Vor Erschöpfung habe ich regelmäßig gekotzt.« Denn neben den Fahrten nach Berlin gilt es, die Märkte im Umland von Eilum zu bestücken. Dienstags Sickte, zu dessen Samtgemeinde auch Evessen gehört. Das 300 Einwohner zählende Dorf Eilum dagegen gehört zur ein paar Kilometer weiter östlich gelegenen Kleinstadt Schöppenstedt, die sich als Geburtsort des Pranksters Till Eulenspiegel inszeniert. Donnerstags der große Markt in Braunschweig, samstags Wolfenbüttel. Von März bis Oktober wird auf den Feldern und im Garten jede Hand gebraucht, auch die Kartoffeln müssen sortiert werden, außerdem unterhält der Lindenhof Rinder und eine Schafherde. Für die idealistische Lebensgemeinschaft Lindenhof bleibt jenseits der Landarbeit wenig Zeit.
     
    Erst mit dem Fall der Mauer wird der Berliner Bio-Markt allmählich von Höfen aus dem Umland versorgt. Für den Lindenhof erübrigte sich im Laufe der 1990er-Jahre das lukrative Fahren in die neue Hauptstadt. Ein weiteres Jahrzehnt später verließ Norbert den Hof.
     
    Aus dem Erzgebirge war Bianca gekommen, über Berlin, um auf dem Lindenhof eine Ausbildung zur Gärtnerin zu beginnen. Querelenfolgten, Bianca verstand sich nicht mit einem Gärtner des Hofes. Es kam zum Zerwürfnis. Doch sie bandelte mit Norbert an: Nur einen Steinwurf vom
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