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Hacken

Hacken

Titel: Hacken
Autoren: Christoph Braun
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Berlin-West, und sie sahen alle aus wie eine Mischung aus Bohème und Kunstszene.
     
    Die Zeitschrift hieß
Spex.
Kai überließ sie mir, die Bands interessierten ihn nicht, und wie die Autoren schrieben, das fand er total merkwürdig. Ich aber liebte sie auf Anhieb. In den Texten von Clara Drechsler oder Diedrich Diederichsen wurde ein ganzes Milieu erfahrbar, wie diese Leute leben und wohnen mochten und wie sie redeten und sich kleideten. Kaum eine der Bands, über die hier geschrieben wurde, kannte ich, und dieses Geheimwissen fand ich attraktiv. Da lag er, der Weg heraus aus der Provinz. In einer Citywie Köln wollte ich leben, mit Dreadlocks auf dem Kopf und einem Kippenberger an der Wand. Es war ja noch eine Ganzheit, in der sich mir die versammelten Musik-und-Style-Strömungen unterhalb des öffentlich-rechtlichen TVs und der regionalen Tagsszeitung präsentierten. Das kam ja an wie ein schönes, großes Wurmloch. Einmal hindurchgeschlüpft, käme ich in meinem eigenen Leben an. Sänger wurde ich eher zufällig und noch etwas später. Bevor ich um das Mikrofon der Schulband tänzelte, beschloss ich, Soziologie zu studieren. Um irgendwann einmal so schreiben zu können wie die Leute der
Spex.
Auch wenn mir das unerreichbar schien, auch wenn ich wusste, dass ich schon anders würde schreiben müssen, um »so zu schreiben wie sie«.
     
    Fünfzehn Jahre später hatte ich fertig studiert und lebte in Berlin.
    BERLINER LEBENSWELT
    Die Lebenswelt hat sich Mitte der Neunzigerjahre noch nicht verdoppelt. Man lebt dort, wo man halt lebt; das Internet als künstlich geschaffene Alltagsumgebung aus Kommunikationen existiert zwar bereits, beginnt jedoch gerade erst, in das Leben von Nicht-Programmierern und Nicht-Cyber-Aktivistinnen hineinzuragen. Ein Jahr hatte ich in Glasgow verbracht, und die Avantgarde der elektronischen Musik hatte dort während einer Club-Nacht einenLive-Jam von Leuten aus Glasgow mit Menschen aus New York organisiert. Das Internet hatte das möglich gemacht, mit diesem Medium hatte ich mich zuvor kaum beschäftigt. Während des Grundstudiums schrieb ich meine Referate noch auf der Schreibmaschine. In Glasgow aber treffen nun elektronische Flächen aus einem Synthesizer in einem nordeuropäischen Club in Echtzeit auf funky Beats einer New Yorker Schlagzeugerin. Das kommt mir zu diesem Zeitpunkt noch vor wie Zauberei. In der Zeit um 1995 aber beschleunigt sich die Verbreitung des Internet. Als ich von Glasgow nach Berlin ziehe, lege ich mir meine erste E-Mail-Adresse zu. Walter Mitty, ein Moderator des Saarländischen Rundfunks, hat mir den Tipp gegeben. In seiner Freizeit gibt er das Saarbrücker Fanzine
Hinterland
zu Singer/Songwriter-Musik und US-amerikanischem Gitarrenrock heraus und veröffentlicht das Magazin zeitgleich digital.
Hinter-Net!
erscheint zunächst auf Diskette, bald aber auch als eines der ersten deutschsprachigen Musikmagazine im Web.
     
    Es hat etwas Weihevolles, wenn ich losgehe, um einen neuen Text, ein Interview mit Lambchop vielleicht oder die Kritik zum neuen Kid Koala-Album loszuschicken. In Kreuzberg lebe ich, direkt an der Spree in der Wrangelstraße. Um die Ecke gibt es eine Bar, in der man E-Mails wegschicken und empfangen kann. Mit dem Unbehagen gegenüber Vertretern aus einer anderen Welt betrete ich die Bar, bestelle eine Orangina und frage in beinahe verschwörerischem Ton, ob der Rechner denn frei sei. Wenn dasModem wählt, dann ist das wie der Gongschlag des Messdieners zum Abendmahl in der katholischen Kirche.
     
    Diese Mischung aus Religion und Geheimwissen, die das Internet umgibt, wird wenig später in
Matrix
von den Gebrüdern Wachovsky festgehalten werden. Als der Film im Jahr 1999 erscheint, ist das Medium Internet gerade bekannt genug, als Grundmotiv eines Hollywood-Blockbusters zu taugen. Die Ästhetik des Films aber wirkt mit einigem Abstand betrachtet wie eine Hommage an jene Epoche des weltweiten Netzes, in der Kunst und Technologie in gesteigertem Maß zusammenarbeiteten und die Erwähnung des Begriffs »Internet« noch Assoziationen wie Hackertum oder Avantgarde-Kunst weckte. Wie sehr sich die Erscheinung des Internet in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre von seiner heutigen Form unterschied, das belegt etwa der Server, an den meine Internet-Bar angeschlossen war:
Internationale Stadt Berlin,
gegründet 1994 von Menschen aus dem Milieu der Netzkunst, erleichterte den Zugang zum Internet. Die Oberfläche der Website war an die einflussreiche
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