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Gruber Geht

Gruber Geht

Titel: Gruber Geht
Autoren: Doris Knecht
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zusammen hatten, noch ein Rest übrig ist und ob er ausreicht, um etwas Neues daraus zu machen. Und ob sie das wollen. Ein Kuss ist eine ganz gute Möglichkeit, das herauszufinden. Vielleicht die beste. Sie küssen sich also, und es gilt in einem Fall wie dem vorliegenden als gutes Zeichen, wenn die Beteiligten den Kuss noch anderswo spüren als nur im unmittelbar vom Küssen betroffenen Bereich. Das geschieht.
    Es ist so dermaßen kalt. Sarah trägt dunkelgrüne Stiefel über schwarzen Jeans und eine ziemlich unförmige grüne Daunenjacke. Schal und Pudelhaube und Handschuhe trägt sie auch. Gruber hat seine geilen J. M.-Weston Chelseas an und den grauen Dries-Van-Noten-Winter-Trench, Kragen aufgestellt, darunter, das kann Sarah jetzt nicht sehen, einen von dem Dutzend Uniqlo Kaschmir-Pullis, die er sich vor zwei Wochen am Broadway gekauft hat. Keine Haube, obwohl er dort im Uniqlo-Shop auch zwei, drei sehr schöne Winterhauben erstanden hat. Aber er ist jetzt lange genug mit Kopfbedeckungen herumgelaufen, damit ist es nun erst mal vorbei. Er hat wieder Haare, und die sind schon tüchtig lang, vergleichsweise. Also verglichen mit seinen Ex-Haaren. Diese Haare werden vorerst garantiert nicht mehr abgeschnitten, dafür hat Gruber sie zu sehr vermisst. Diese Haare sollen jetzt wachsen; auch wenn sie irgendwie anders wachsen als vorher, dicht und kräftig zwar, aber anders. Ist Gruber egal, nur wachsen sollen sie, mögen sie wachsen wie sie wollen, mögen sie sprießen und sich mehren und zahlreich sein. Sarah hat, nachdem sie Gruber fertig geküsst hatte, einen Blick auf seine Haare geworfen, ist ihm mit der wollenen Fingerhandschuhhand hineingefahren, hat nur gegrinst, nichts gesagt. Sie gehen über den Graben und dann den Kohlmarkt entlang. Ihr Atem weht vor ihnen her. Gruber spürt seine Ohren. Sarah erzählt ihm von der Arbeit mit Fehringer, sie ist hier, um mit Fehringer wieder ein paar Tracks zusammenzubauen, und morgen legt sie im Flex auf. Gruber erzählt ihr, dass er immerhin schon darüber nachdenkt, wieder arbeiten zu gehen.
    «Tu es nicht», sagt Sarah.
    «Was?», sagt Gruber, «ich soll nicht wieder arbeiten gehen? Warum nicht?» Er ist stehengeblieben. Sie stehen unter der Kuppel der Hofburg, Gruber blickt hinauf in die von einem Taubenschutzgitter gerasterte Stuckdecke.
    «Tu. Es. Nicht. Bitte.», sagt Sarah flehentlich. Na gut, pfeift Gruber diesmal nicht «Blowin’ in the Wind». Ihr zuliebe. Er pfeift, während Sarah ihr Gesicht in ihren Handschuhhänden parkt, «My Back Pages»: Ah, but I was so much older then, I’m younger than that now. Alle Leute drehen sich nach Gruber und Sarah um.
    «Du bist kein guter Mensch», sagt Sarah.
    «Und du bist für einen D J ziemlich unmusikalisch», sagt Gruber, «hättest du mal lieber dein Medizinstudium abgeschlossen.»
    «Ja, dann könnte ich dich jetzt heilen.»
    «Bin schon heil», sagt Gruber.
    «Kann ich nicht bestätigen», sagt Sarah.
    Sie gehen weiter, und Gruber erzählt von New York, obwohl es über fünf Tage New York, in denen er praktisch nur amokgeshoppt und auf die eine und andere Weise sein neues, sein zurückgefangenes Leben zelebriert hat, nicht allzu viel zu berichten gibt. Also, es gäbe schon einiges, aber das meiste davon will man einer Frau, die eine gute oder zumindest nicht so schlechte Meinung von einem haben soll, lieber nicht erzählen. (Gruber erwähnt zum Beispiel nicht, dass er mit Henry dort war.)
    Und später sitzen sie in diesem Fischladen am Naschmarkt, und Sarah kann wieder Austern essen und Champagner trinken. Sie kann auch wieder rauchen und sie kann ihm jetzt alles erzählen. Nicht im Detail, aber so überschlagsmäßig. Nach dem zweiten Glas erzählt sie ihm dann doch ein bisschen mehr. Und nach dem dritten erzählt sie es ihm.
    «Und ich denke mir immer wieder: Was, wenn es das war? Wenn das mein Kind war und ich kriege jetzt keins mehr? Und das ist, hm, das ist ... so quälend, weil ich nie eins wollte, weil es überhaupt nicht passte, und danach, als ich das, das ich nie wollte und das nie passte, nicht kriegte, hatte ich so ein ... ein massives Gefühl des Verlustes. Eines brutalen, unersetzlichen Verlustes.»
    «Weißt du was», sagt Gruber und schenkt sich sein Glas ein viertes Mal mit Schampus voll und Sarah gleich auch, «weißt du, das glaubst du mir jetzt nicht, aber es ging mir auch so ähnlich. Ein bisschen. Und ich wollte das Kind wirklich nicht. Wirklich, wirklich, wirklich, wirklich, wirklich,
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