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Gruber Geht

Gruber Geht

Titel: Gruber Geht
Autoren: Doris Knecht
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bis in einen Raum voller technischer Gerätschaften, Ruth lief die ganze Zeit neben dem Bett her und hielt meine Hand. Dann half mir eine Schwester beim Ausziehen und zog mir so ein Krankenhausnachthemdchen an, so ein schreckliches, operationssaalgrünes, hinten offenes Ding. Die Schwester wusch mich mit einem warmen, feuchten Lappen. Ich bekam eine knisternde, hellblaue Plastikhaube über meinen Kopf. Ruth umarmte mich noch mal, küsste mich und sagte, alles werde gut, ja, alles werde gut, ich könne jederzeit wieder ein Kind haben, noch viele Kinder, ich würde bestimmt bald ein Kind haben, alles werde gut. Ein Mann kam, der Anästhesist, er fragte mich aus, ob ich Medikamente nähme oder Allergien hatte oder Krankheiten. Nein, nein, nein. Er trug alles in einen Zettel auf einem Klemmbrett ein, den ich dann unterschreiben musste. Dann legte er einen Zugang und plauderte freundlich mit mir. Ich dachte an John und musste wieder heulen. Eine Ärztin stellte sich mir vor. Sie werde mich operieren. Sie streichelte mein Gesicht und meinte auch: Alles wird gut, Sie werden wieder ein Kind haben, das sollte es einfach nicht sein, aber es wird wieder gut. Der Anästhesist legte mir eine Maske aufs Gesicht und sagte, es sei bald überstanden, ich solle einfach von zehn zurückzählen. Ich glaube, ich kam bis acht. Als ich wieder aufwachte, war alles vorbei. Alles war vorbei. Ich war nicht mehr schwanger, ich war keine Mutter mehr. Es wäre ein Mädchen geworden, Ruth hat es mir dann doch erzählt, aber es war nicht mehr, alles weg, alles vorbei.

Diesmal wartet Gruber vor dem Hotel. Steht vor ihrem Hotel und tritt von einem Bein auf das andere. Es ist saukalt. Es ist so kalt, dass vereinzelt Schneeflocken fallen, aber es sind zu wenige, es wird keine Schneeschicht daraus. Obwohl es derart schweinearschkalt ist. Aber Gruber will nicht reingehen. Er will hier draußen in der Kälte auf sie warten, auch wenn sie jetzt schon acht, nein, neun Minuten zu spät ist und er allmählich seine Zehen nicht mehr spürt, und ihm langsam – und da sieht er sie durch die Glastüre, sie nickt dem Portier zu und zieht sich eine Wollhaube über die Heuhaare. Die sind jetzt länger, die Heuhaare, und sie leuchten unter der Mütze heraus. Sie hat ihn noch nicht gesehen, aber jetzt sieht sie ihn und lächelt, und jetzt drückt sie die Glastüre auf und kommt heraus, und jetzt steht sie vor ihm, und jetzt schaut sie ihn an mit so einem neugierigen Was-ist-jetzt-Blick. Was wird das jetzt. Und sie wollen sich eigentlich beide nicht küssen, nicht richtig, nach all dem Scheiß, der geschehen ist. Nach allem, was sie durchgemacht haben, jeder von ihnen und beide zusammen und doch wieder jeder für sich, nach all dem erscheint so ein oberflächliches Geküsse und Gebussel irgendwie unpassend, oder. Aber sie sagen hei, hei du, und schauen sich an und lächeln und grinsen und strecken die Hände nacheinander aus und küssen sich doch. Küssen sich mehr, als sie vorgehabt haben, nein, sie küssen sich mehr, als Sarah vorgehabt und mehr, als Gruber gehofft hat. Gruber hat, um ehrlich zu sein, schon auf ein bisschen Geküsse gehofft. Auf ein nettes oberflächliches Geknutsche hat er gehofft, auf ein Knutschen, das so tut, als finde es statt zwischen zwei Menschen, von denen nicht der eine Krebs hatte und nicht der andere das gemeinsame Kind verlor. Das Kind verlor, gerade als der, der nun keinen Krebs mehr hatte, bereit gewesen war, es zu akzeptieren und darauf zuzugehen, ganz kurz nachdem er gerade innerlich ein bisschen Vater geworden war, und das endlich auch zugeben hatte können, vor der, die das Kind dann verloren hat. Ein ganz leichtes, lastenfreies, unbeschwertes Studentenpartygeschmuse zwischen zwei unverletzten, unvernarbten Menschen, das hätte sich Gruber gewünscht, so ein Schaumermal-Küssen, wie es zweien, die sich trotz alldem tatsächlich erst so kurz, so wenig kennen wie Sarah und Gruber, eigentlich ansteht. So ein Küssen ist es nicht. So ein Küssen ist es natürlich nicht. So ein Küssen geht nach solchen Geschichten nicht, unmöglich. So leicht, so schwebend geht das nicht mehr, es ist viel schwerer. Aber sie küssen. Sie küssen sich. Küssen sich wie zwei, die schon etwas zusammen hatten und es weggeschmissen oder verloren oder aus Zorn in den Kübel getreten oder übersehen oder verdrängt oder verschoben oder vergraben oder von sich geschoben haben. Aber jetzt sind sie beieinander und müssen herausfinden, ob von dem, was sie
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